Wie werde ich...? Industriekletterer
Berlin (dpa/tmn) - Marlon Simon blickt in einen Abgrund. Er steht auf dem Dach eines 25 Meter hohen Hauses - die Menschen am Boden erscheinen von hier oben so klein wie Spielzeugfiguren. Um Simons Hüften ist ein Gurt gespannt.
Daran hängen Werkzeug und Karabiner.
Ganz lässig steigt der 22-Jährige über die Kante des Gebäudes. Schritt für Schritt seilt er sich an der senkrechten Hauswand ab. Der Industriekletterer hat einen Auftrag: Er muss heute Regenleitungen an der Hausfassade austauschen.
Manche Passanten unten auf der Straße mag der Seilkünstler ein bisschen an Spiderman erinnern. Seit kurzem arbeitet Simon für die Berliner Firma Müller und Sohn - und klettert in seinem Job mit Seilen mal an Hochhäusern oder Windrädern herab. Der junge Mann absolviert derzeit eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker - die Zusatzqualifikation zum Industriekletterer hat er schon in der Tasche.
Das Aufgabenspektrum von Industriekletterern ist groß. Die Höhenarbeiter kommen zum Einsatz, wenn es entweder zu teuer oder zu umständlich ist, einen Kran oder ein Gerüst aufzustellen. Sie reinigen Fenster an Hochhäusern, hängen Riesenposter auf oder reparieren Kirchtürme. Derzeit seien besonders in der Windenergiebranche Fachkräfte gefragt, sagt Sven Drangeid, Leiter der Geschäftsstelle des Fach- und Interessenverbands für seilunterstützte Arbeitstechniken (FISAT).
Industriekletterer sei kein anerkannter Beruf, sondern lediglich eine Zusatzqualifikation, will Sven Müller mit einem Vorurteil aufräumen. Er ist Simons Chef bei der Firma Müller und Sohn. Das Unternehmen bietet eine Kombination aus technischen Dienstleistungen und Höhenarbeiten an, etwa Reinigungs-, Montage- oder Reparaturarbeiten.
Für die Arbeit als Industriekletterer sei bei den meisten Unternehmen eine handwerkliche Ausbildung zwar kein Muss, aber eine zunehmend wichtige Voraussetzung - etwa als Dachdecker oder Industriemechaniker.
Das Zertifikat zum Industriekletterer umfasst drei Kurse mit steigenden Schwierigkeitsgraden, klärt das Potsdamer Berufskletterzentrum auf. Im ersten Kurs üben die Teilnehmer das Arbeiten am Seil. Neben dem Klettern liegt der Fokus auf Sicherungs- und Rettungstechniken, Knotenkunde und Sturzphysik. Der erste Kurs am Berufskletterzentrum kostet 790 Euro und dauert fünf Tage, einschließlich theoretischer und praktischer Prüfung. Nach dem Grundkurs kann man bereits als Industriekletterer arbeiten - aber nur mit einem Kollegen, der alle drei Levels bestanden hat.
Neben handwerklichen Kenntnissen sollten Industriekletterer mindestens 18 Jahre alt und schwindelfrei sein. Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist aber immer noch der Spaß an der Arbeit. „Klettern war schon immer mein Hobby“, sagt Azubi Simon. „Für mich ist das der schönste Beruf.“ Schöne Momente seien etwa, wenn Passanten am Boden ihre Köpfe in den Himmel strecken, um Fotos zu machen. „Das spornt richtig an.“ Doch es gibt auch ungemütliche Aspekte. „Schnee, Eis und Regen sollte man im Winter Stand halten können“, erzählt Simon.
Kirsten Grötzner von der VIK Industriekletterschule in Hamburg nennt noch weitere Nachteile. So sei es als Industriekletterer grundsätzlich schwer, eine Festanstellung zu bekommen. Laut Drangeid bringt der Job auch gesundheitliche Belastungen mit sich - so sei etwa das Sitzen im Gurt eine Zwangshaltung für den Körper. Zwar gebe es auch Kollegen, die älter als 50 Jahre sind. Doch für viele Kletterer sei mit Mitte 40, Anfang 50 Schluss am Seil.