Wenn Schule einen fertig macht
Psyche: Immer mehr Kinder haben Angst. Sie werden gemobbt oder der Leistungsdruck ist zu hoch.
Düsseldorf. Nach dem schrecklichen Amoklauf in Winnenden suchen die Experten nach Auslösern für die schreckliche Tat von Tim Kretschmer. Ein Ansatz ist, dass sich der 17-Jährige in der Schule gemobbt fühlte, so dass er nicht mehr zur Schule gehen wollte. Dieses Empfinden bzw. die Angst vor der Schule ist kein Einzelfall. Auch die 11-jährige Lea hatte Angst.
"Anfangs bin ich noch hart geblieben. Ich habe darauf bestanden, dass sie zur Schule geht", erinnert sich Silke Karstein (39). Irgendwann weigerte sich Lea, in den Schulbus zu steigen. "Da bin ich mitgefahren. Aber als meine Tochter zusammengesunken neben mir saß, wusste ich, dass es so nicht weitergehen konnte", entschied die Mutter. Sie sprach mit der Klassenlehrerin und wandte sich an eine Erziehungsberatungsstelle.
Experten schätzen, dass zwischen 600000 und einer Million der derzeit zwölf Millionen Schüler unter Schulangst leiden. Tendenz steigend. So hat eine bundesweite Studie aus dem Jahr 2007 ergeben, dass bereits ein Drittel aller Kinder Angst davor hat, in der Schule zu versagen. Nicht in jedem dieser Fälle kann von Schulangst gesprochen werden, aber die Grenzen sind fließend. Spätestens dann, wenn sich Kinder vor dem Schulbeginn mit Brechreiz quälen oder vor Kopfschmerzen dem Unterricht nicht mehr folgen können, besteht dringender Handlungsbedarf.
Doch wie können Eltern erkennen, dass ihr Kind unter Schulangst leidet? Nicht immer liegen die Anzeichen so klar auf der Hand wie bei den Karsteins. Dabei gibt es zwei wichtige Kriterien, die für Schulangst sprechen: schlechte Leistungen und der Zeitpunkt. "Nicht alle Betroffenen sind schlechte Schüler. Aber alle hätten ohne die Furcht bessere Noten", weiß Diplompädagoge Detlef Träbert, der nach 18 Jahren als Lehrer seine eigene Schulberatungsstelle "Schubs" gegründet hat.
Vor allem der Schulbeginn und der Schulwechsel nach der Grundschulzeit sind sensible Phasen, in denen Eltern aufmerksam für eventuelle Schwierigkeiten ihrer Kinder sein sollten. Und oft spricht auch für Schulangst, wenn in den Ferien und am Samstag plötzlich alles wieder gut ist.
Die Gründe für massive Ängste vor dem Schulbesuch sind so vielfältig wie die körperlichen und seelischen Symptome. Wolfgang Oelsner und Gerd Lehmkuhl berichten in ihrem Buch "Schulangst. Ein Ratgeber für Eltern und Lehrer" davon, dass betroffene Kinder generell eher ängstlich und unsicher sind. Als Ursachen für die wachsende Zahl verzweifelter Schüler werden auch Leistungsdruck, unsensible Lehrer und übertrieben ehrgeizige Eltern genannt.
Hinzu kommen Mobbing und die Gemeinheiten, die sich schon Grundschüler via Internetchat an den Kopf werfen. "Da geht es nachmittags beim Chatten schon mal ordentlich zur Sache und am nächsten Morgen fliegen dann die Fäuste", weiß Jugendgerichtshelfer Dirk Wermelskirchen, der sich im Verein "Neue Wege e.V." um die Aufklärung von Eltern bemüht.
Die Schuld an der Misere sehen Experten nicht nur bei Mitschülern und Lehrern, sondern auch bei den Eltern selbst, von denen manche ihre Kinder mit hohen Ansprüchen überfordern. Nicht immer ist das Gymnasium die ideale Schulform, während bereits 60 Prozent aller Eltern sich das Abitur als Abschluss für ihre Kinder wünschen. Der Einbruch erfolgt daher meist nach dem Schulwechsel, der viele Schüler überfordert.
"Bis zu diesem Zeitpunkt kann man mit Bravheit und Fleiß viel erreichen. Erst dann merken die Kinder, dass sie in einer Liga spielen, in der sie nichts zu suchen haben. Selbst wer anfangs noch durchhält, hat jeden Spaß am Lernen verloren. Oft für immer", weiß Wolfgang Oelsner, Leiter der Klinikschule der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni Köln.
Lesetipp W. Oelsner/G.Lehmkuhl, Schulangst. Ein Ratgeber für Eltern und Lehrer, Patmos, 14.90 Euro