Chronische Schmerzen sind kein Schicksal
Nürnberg (dpa/tmn) - Schmerzen, die immer wieder durch jeden Winkel des Körpers kriechen. Ohne erkennbare Ursache, zu jeder Tageszeit. Wer von chronischen Beschwerden geplagt wird, muss sich damit nicht abfinden.
Doch oft dauert es lange, bis die richtige Hilfe da ist.
Schmerzen hat jeder mal. Bei den meisten vergehen sie wieder - etwa weil das Fieber bei einer Grippe abgeklungen oder der Beinbruch verheilt ist. Bei manchen aber bleiben sie, obwohl der Auslöser längst verschwunden ist oder keine Rolle mehr spielt. Dann sprechen Experten von der Chronischen Schmerzkrankheit. Die Betroffenen wandern auf der Suche nach Hilfe häufig jahrelang von Arzt zu Arzt, während ihre Beschwerden immer schlimmer werden.
Der Neurologe Michael Überall aus Nürnberg spricht deshalb vom Schmerz als „perfidem Lebenspartner“, der sich in alle Bereiche einmischt: die Psyche kann darunter leiden, der Job, die Beziehung. „Es ist eine Erkrankung, die die Lebensqualität limitiert“, sagt der Präsident der Deutschen Schmerzliga, die kürzlich ein „Schwarzbuch Schmerz“ mit Patientenschicksalen herausgegeben hat. Eine Betroffene beschreibt ihre Beschwerden darin so: „...der Schmerz wandert ständig weiter durch alle Muskeln und Sehnen, durch alle Nervenenden jeden Tag aufs Neue.“ Manchmal wird es ein Drehschwindel, manchmal spüre sie „Zahnschmerzen, die keine sind“.
Schätzungsweise zwölf Millionen Menschen in Deutschland haben chronische Schmerzen. Rund 1,8 Millionen von ihnen brauchen Schmerztherapeuten, weil sich ihre Beschwerden nicht allein mit dem fachgebundenen Wissen eines Arztes in den Griff bekommen ließen, sagt Müller-Schwefe. Wie der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie erläutert, ist die Schmerzmedizin in Deutschland kein eigenes Fachgebiet, sondern nur eine Zusatzqualifikation für Ärzte.
Grund für die Beschwerden sind Lernprozesse in den Nervenzellen: Am Anfang mag ein akuter Schmerz gestanden haben, etwa durch einen Knochenbruch. Doch weil die Schmerzkontrollsysteme verändert sind, signalisieren die Nervenzellen einfach weiter, dass es irgendwo wehtut - obwohl es körperlich gesehen dafür keinen Grund (mehr) gibt.
Dabei spielen auch psychische und soziale Komponenten eine Rolle und tragen zu einer Abwärtsspirale bei: Der Patient ist womöglich früher missbraucht worden und neigt deshalb dazu, sich zurückzuziehen, gibt Müller-Schwefe ein Beispiel. Dadurch verliert er den Anschluss zu anderen Menschen, seine Schmerzen verstärken sich.
Chronisch Schmerzkranke sind keine Hypochonder, obwohl ihnen das oft vorgeworfen wird. „Die Patienten wollen nicht krank sein, sie wollen keine Schmerzen haben, sie wollen wieder gesund werden“, erläutert der Mediziner und Psychologe Prof. Thomas Tölle von der Technischen Universität München. Er ist Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft.
Laut Schmerzliga-Präsident Überall dauert es meist zwischen sieben und zehn Jahre, bis die Diagnose steht. Oft machten die Betroffenen über die Zeit verschiedene Therapieversuche bei verschiedenen Fachärzten durch, die alle verschiedene denkbare Ursachen behandeln, ergänzt Müller-Schwefe. Das trage auch dazu bei, dass der Schmerz zu einem dauerhaften Problem wird. Aber: „Chronischer Schmerz ist kein Schicksal“, betont Überall.
Denn wenn die Betroffenen endlich die passende Therapie bekommen, „merken sie, es geht doch noch was“, sagt Tölle. Diese positive Erfahrung sei ein elementarer Schritt auf dem Weg zur Besserung, auch wenn komplette Schmerzfreiheit meist eine Illusion sei.
Laut Müller-Schwefe haben Medikamente bei der Behandlung nur den geringsten Anteil. Sie dienten vor allem dazu, dass der Patient wieder körperlich aktiv wird. Denn Schmerz führe dazu, dass der Kranke Bewegung vermeidet, obwohl eine kräftige Muskulatur das beste Mittel gegen Schmerzen sei. Neben Physio- spielt Psychotherapie eine Rolle. Dabei lernen die Betroffenen, mit Konflikten besser umzugehen und den Fokus auf andere Dinge als ihren Schmerz zu legen.
Damit Schmerzen aber gar nicht erst chronisch werden, rät Müller-Schwefe Patienten, darauf zu bestehen, vom Arzt gründlich ausgefragt und untersucht zu werden. Röntgenbilder oder Kernspintomographien seien für eine effiziente Diagnose meist nicht erforderlich - Zeit für ein ausführliches Gespräch sei wichtiger.