Zwei Monate im Bett für die Raumfahrtforschung
Köln/Vierkirchen (dpa) - Er ist jung, gesund, agil und startet ins Berufsleben. Trotzdem liegt Lucas Braunschmidt zur Zeit nur im Bett. Zwei Monate lang. Mehr als die Hälfte ist schon rum. Beim Besuch an diesem Vormittag wirkt er entspannt: „Ich bin tiefenentspannt“, korrigiert er gut gelaunt.
Niemand erwartet von Braunschmidt die Höflichkeit, sitzend oder stehend die Besucher zu begrüßen. Das würde gegen alle Regeln verstoßen. Das oberste Gebot ist: Nur nicht aufstehen. Den Kopf darf er heben, und eine Schulter. Das war es dann aber auch.
Der 22-Jährige aus Vierkirchen in Bayern nimmt an einer Gesundheitsstudie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) zu den Auswirkungen der Schwerelosigkeit teil. Er weiß, dass seine Muskeln und Knochen durch die fehlende Belastung in den nächsten Wochen weiter abgebaut werden - an Waden, Oberschenkeln und auch an der Hüfte - wie bei den Astronauten in der Schwerelosigkeit. „Der Körper schaltet im All in den Energiesparmodus“, sagt DLR-Studienleiter Edwin Mulder in Köln. Der Verlust setze bei den Astronauten schon nach zwei Tagen ein.
Im Anschluss an einen langen Arbeitstag von oft mehr als zwölf Stunden müssen Astronauten noch zweieinhalb Stunden gegen diesen Prozess antrainieren. In der Anfang September begonnenen Studie testen die Wissenschaftler, ob ein kurzes und knackiges Training an einem neuen Gerät für die Astronauten dabei effektiver ist. „Wir suchen nach dem Optimum“, betont der Studienleiter. Und dazu braucht er Leute wie Braunschmidt, die wochenlang liegen und so die Auswirkungen der Schwerelosigkeit im Bett erfahren.
„Die Welt steht mir offen“, sagt Braunschmidt, der gerade seine Ausbildung zum Ergotherapeut abgeschlossen hat. Trotzdem hat er sich für den zwölf Quadratmeter großen Raum im Kölner DLR-Forschungszentrum Envihab entschieden - „sein Zimmer“ wie er sagt: Schrank, Bett, Schreibtisch, ein Fenster ohne Blick nach draußen, künstliches Licht und ein Bildschirm über dem Bett. Seinen Computer hat er mitgebracht und Fachliteratur - da hat er aber noch nicht reingeguckt. Es gibt auch eine Sprechanlage, über die er sich per Knopfdruck mit den anderen elf Teilnehmern unterhalten kann. Bettkoller? „Nein, wir werden häufiger mal nach vorne geschoben“, sagt er. „Vorne“ das ist ein Aufenthaltsraum mit einem Fernseher.
Sechs von ihnen machen dieses knackige Training an dem neuen Gerät, einem sogenannten Sprungschlitten. Fünf- bis sechsmal werden sie pro Woche im Bett zu ihrem Trainer Andreas Kramer von der Universität Konstanz gerollt. Sie legen sich dort in das Trainingsgerät und springen liegend gegen einen Widerstand an. Braunschmidt gehört zur Vergleichsgruppe, die nicht springt.
Zuhause in Vierkirchen arbeitet er ehrenamtlich beim Bayerischen Roten Kreuz als Rettungssanitäter. Er sieht hilflose Menschen und spürt dann manchmal im Umgang mit ihnen ihre Hemmungen, um Hilfe zu bitten. „Jetzt bin ich mal in einem Abhängigkeitsverhältnis und muss selbst um Hilfe bitten.“ Mit einem großen Unterschied: „Ich weiß, dass ich aufstehen könnte.“ Diese Erfahrung, immer Hilfe in Anspruch zu nehmen, das bringe ihn persönlich weiter und helfe ihm später, noch mehr Geduld für seine Patienten aufzubringen, sagt Braunschmidt.
Auf seinem Esstischchen unterhalb der Matratzenkante, wartet noch ein Käseschnittchen auf dem Teller. Er verputzt das routiniert im Liegen, ohne zu bröseln oder sich zu verschlucken. Aber mit der Suppe ist das immer noch so eine Sache, gesteht er. Er muss aufessen, was auf den Tisch kommt. Nachschlag gibt es keinen. Die Portionen sind nach dem Grundumsatz der Teilnehmer in der Ruhephase berechnet und tragen zur Vergleichbarkeit der Testergebnisse bei. „Ich würde mich gerne mal wieder ganz unvernünftig vollessen“, sagt der schlanke Mann mit Blick auf die Zeit nach der Studie. „So, dass der Bauch spannt.“ Er grinst und streicht sich über den Bauch.
Über WLAN, Skype und WhatsApp hält er den Kontakt nach draußen. Besucher dürfen nämlich nicht kommen. Wie leicht könnten die eine Erkältung mitbringen und so die Studie gefährden. Sogar gute alte Postkarten hat Braunschmidt schon bekommen - und geschrieben. Zwischen zehn und elf Uhr ist Feierabend: Dann geht das WLAN aus. Die Teilnehmer sollen im Tag- und Nachtrhythmus bleiben.
Der junge Mann zählt nicht die Tage, bis es vorbei ist: Anfang November sei Schluss, sagt er. Das genaue Datum spielt für ihn jetzt keine Rolle. Er freut sich, dann wieder mal rauszugehen an die frische Luft. Gehen. Warum sollte das nicht klappen? „Bei den Astronauten ist das ja auch wieder geworden.“