Per Zug von Los Angeles nach New York: Insgesamt sechs Wochen waren Arne Ulbricht und seine Tochter Lotta unterwegs Mit Lotta quer durch Amerika

Insgesamt sechs Wochen waren Arne Ulbricht und seine Tochter Lotta unterwegs

Lotta in Venice Beach, Los Angeles, dem Startpunkt der Reise.

Foto: USA Gastbeitrag Arne Ulbricht

”Papa! Jetzt komm endlich”, schimpft meine Tochter Lotta, fünf Jahre alt. Wir sind gerade in einer Drogerie. Sie ist wie so oft unzufrieden und äuβert das in ihrem unverwechselbaren Lotta-Tonfall. Ein älteres Ehepaar lacht uns an. „Redest du immer so mit deinem Papa?“ „Ja“, antworte ich.

 Mich stört das aber nicht. Schlieβlich ist Lotta seit ihrer Geburt ständig mit ihrem Papa unterwegs. Und an irgendjemandem muss man seinen Ärger ja auch mal auslassen.

Erste Station der sechswöchigen Zugreise: Los Angeles

Zehn Jahre später: Lotta und ich sind in Los Angeles angekommen – der ersten Station unserer sechswöchigen Zugreise von L.A. über San Francisco, Denver, Chicago und Washington nach New York. Seit Monaten freuen wir uns auf diesen Tag! Doch unser erster Eindruck ist katastrophal. Auf dem vom Reiseführer angepriesenen Venice Boulevard laufen so viele Kiffer herum, dass wir durchs Passivrauchen fast eine Dröhnung bekommen. „Also, so habe ich es mir hier nicht vorgestellt“, murmelt Lotta, während wir an einem Mann vorbeigehen, der wie tot auf dem Asphalt liegt. Die Armut ist extrem hier. Zelte an jeder Ecke. Nicht, weil man hier campen darf, sondern weil viele in den Zelten wohnen. Das ist deshalb so bedrückend, weil Luxushäuser mit Pazifikblick in direkter Nachbarschaft stehen.

Nach diesem ersten Schock wird es besser. Und zwar jeden Tag. Der Ausflug zum auf einem Hügel gelegenen Griffith Observatory ist ein erster von vielen Höhepunkten. Die Dauer-Weltall-Ausstellung ist groβartig, und von der Dachterrasse hat man einen überwältigenden Blick über L.A. in die eine Richtung und über den Griffithpark mitsamt legendärem Hollywoodsign in die andere. Einen Tag später radeln wir auf einem Radweg direkt am Strand entlang in Richtung Santa Monica und noch weiter nach Pacific Palisades. Der reine Wahnsinn.

Nach zwölfstündiger Fahrt mit dem Zug, der so nah am Meer entlangwackelt, dass man vom Zug direkt ins Wasser springen könnte, kommen wir in San Francisco an. Einen Tag später wandern wir einen Küstenweg in Richtung Golden Gate Bridge.„Da ist sie!“, jubelt Lotta plötzlich.Ja, da ist sie. Fast schon andächtig bleiben wir stehen, dann gehen wir weiter, und mit jedem Schritt wird die Brücke imposanter. Dass wir uns in San Francisco so wohl fühlen, liegt aber weder an der Golden Gate Bridge, noch an der atemberaubenden Gefängnisinsel Alcatraz oder den Cable Cars, die den Charme vergangener Zeiten ausstrahlen. Nein, die Gelassenheit der Menschen und das Gefühl, hier zu Hause zu sein, sind für uns der durchgehende San-Francisco-Höhepunkt.

Nach einem Zwischenstopp in Denver, von wo aus wir einen Abstecher in die Rockys machen, beziehen wir in Chicago Quartier. Chicago liegt an einem See, wie viele wissen. Aber wie groβ dieser „See“ wirklich ist, das weiβ man erst, wenn man an dessen Ufer steht. Selbst von der 360-Grad-Aussichtsplattform eines der Skyskraper sieht man nur Wasser. Mitten im Zentrum gibt es einen riesigen Park, in dem man sich den ganzen Tag aufhalten könnte. Wir verbringen insgesamt viel Zeit in Parks, und am häufigsten sind wir im New Yorker Centralpark. Hier picknicken wir, erholen uns von den Ausflügen – zum Beispiel zur Statue of Liberty – und von ausgehnten Stadtspaziergängen, schlendern durchs parkeigene Vogelschutzgebiet oder gucken beim Baseball zu.

Und damit wäre ich bei den Höhepunkten, die nicht im Reiseführer stehen. Die Amerikaner selbst! Unglaublich freundlich (sie bedanken sich in der Regel beim Busfahrer, bevor sie aussteigen), hilfsbereit und ohne Ende baseballverliebt. Wo immer es eine Wiese gibt, sieht man irgendeinen Vater mit seinem Sohn (es sind selten Mütter), die Baseball spielen. Und in den Parks trifft man sich sowieso zum Baseball. Baseball ist kein amerikanisches Klischee, sondern Amerika. Wenn ich nicht 50 wäre, würde ich selbst gern anfangen.

Ein weiterer Höhepunkt ist die Auswahl unseres Fortbewegungsmittels. Vor allem die drei Long-Distance-Fahrten (zwischen 18 und 34 Stunden lang) gehören zu meinen unvergesslichsten Reiseerlebnissen überhaupt. Stundenlang sieht man im Observationcar die Landschaft an sich vorbeirauschen, und man bekommt in jeder Hinsicht ein Gefühl für die Weite dieses Landes. Die Zugfahrten verwandeln unsere Reise auch in ein Abenteuer. Denn der eine Zug hat sieben, der andere 16 (!) Stunden Verspätung. In einem Fall hat sich die Nacht vollkommen verschoben. Im anderen Fall stehen wir plötzlich um zwei Uhr morgens in Denver vor dem Bahnhof und erleben, umgeben von betrunkenen Obdachlosen, die vielleicht schwierigste halbe Stunde unserer gesamten Reise.

Aber dann kommt das Uber-Taxi, und unser megafreundlicher Host empfängt uns mitten in der Nacht mit einer Herzlichkeit, die uns fast schon peinlich ist.

Und wie ist das so, mit der eigenen Tochter zu reisen? Für mich war das der durchgehende Höhepunkt dieser Reise. Irgendwie wussten wir vom ersten Tag an, dass man bei 35 Jahren Altersunterschied Kompromisse machen muss, weshalb sie es nicht gestört hat, sich in irgendeinem Museum Bilder angucken zu müssen und ich geduldig im Disneyland wirklich alles mitgemacht habe und es mir plötzlich sogar richtig Spaβ gebracht hat. Mit einem Erwachsenen hätte ich vermutlich nicht ganz so viele Abende damit verbracht, Karten zu spielen und Stranger Things zu schauen. Aber ob man es mir glaubt oder nicht: Schon nach wenigen Tagen hätte ich diese Abende gegen nichts auf der Welt eintauschen wollen. Für Lotta war es natürlich schön, dass ich mitgekommen bin. Allein hätte sie diese Reise in ihrem Alter nicht machen können. Und für mich war es ebenfalls schön, und letztendlich habe ich Lotta so sehr gebraucht wie sie mich. Denn ohne sie hätte ich mich dauernd verlaufen.

„Papa… nicht da lang. Da geht es nach Brooklyn, wir wollen aber nach Manhattan!“ Ähnliche Sätze im Lotta-Tonfall, der sich nie geändert hat, musste ich mir in den sechs Wochen oft anhören. Meistens habe ich gelächelt. Denn geschimpft hat sie ja schon immer mit mir.