Abenteuer im Reich der argentinischen Gletscher
El Calafate (dpa/tmn) - Der Perito-Moreno-Gletscher ist eine der Hauptattraktionen Argentiniens. Das Besondere: Er wächst noch, anders als die meisten anderen Gletscher.
Wer den Nationalpark Los Glaciares im argentinischen Teil von Patagonien besucht, steht genau an der Linie zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit. Dort, wo beide Dimensionen einander näher sind als je zuvor. Auf der einen Seite die fast heilige Stille, die sich über die jahrtausendealte weiße Steppe ergießt. Auf der anderen Seite das Krachen der Eiskanten, die ein ums andere Mal abfallen, zerbrechen und sich rasch im Wasser auflösen.
Auf den 724 000 Hektar des Nationalparks in der Provinz Santa Cruz gibt es 300 Gletscher - darunter ein Star, der alle Blicke auf sich zieht: der Gletscher Perito Moreno. Er ist weder der größte, noch der höchste, noch der älteste oder der neueste - er ist der Gletscher, von dem man am meisten sehen kann, weil sich seine Front so majestätisch erhebt.
Dieser Gletscher, der zum Unesco-Weltnaturerbe gehört, hat etwa die Dimensionen der Stadt Buenos Aires. Der schlängelnde Pfad aus Stahl und Holz, der vor seiner Nordseite gebaut worden ist, erlaubt es, den Gletscher aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Aber richtig nah kommt man nur mit einem Boot. Der Weg führt über den „Canal de los Témpanos“ („Kanal der Eisschollen“).
Vom Land aus erinnern die Boote, die zum Perito Moreno fahren, an Papierboote, weiße Ameisen vor dem gigantischen Eis. Aber auf dem Heck fühlen sich die Reisenden wie auf einem großen Schlachtschiff, das sie bei einem Abenteuer beschützt.
Vorne: ein Riese mit länglicher Nase. Auf der rechten Seite: ein Schwert, das sich schräg aus dem See hebt. In Reichweite der Hände: ein Strudel. Die Figuren nähern sich dem Boot und entfernen sich wieder von ihm, sie drehen sich um sich selbst und verändern ihr Aussehen wieder, während sie gleiten, sich teilen, und schmelzen.
Direkt vor dem Gletscher werden die Motoren ausgeschaltet, und die Stille gewinnt die Überhand. Bis sich endlich ein Donner den Weg bahnt und sich ein großes Stück Eis hoch oben vom Gletscher ablöst und in den See stürzt. Neue Riesen, verkleidet als Eisstücke, werfen sich in neue Schlachten.
Es gibt Schiffe, die weiterfahren und die Zipfel anderer Gletscher ansteuern, wie den des Spegazzini oder den des Viedma. Nur der Upsala, eine rund 870 Quadratkilometer große Masse aus Eis, ist unerreichbar geworden. Das Eis seiner Front verstopft seit Jahren den Seezugang zu seinem Reich.
Der Gletscher Perito Moreno ist seit mehr als 90 Jahren stabil. Er hat eine perfekte Balance zwischen Wachsen und Schrumpfen erreicht. Er ist ein gelassener Gletscher, ein gezähmtes Tier, das sich anfassen und treten lässt. Auf seiner südöstlichen Seite stehen improvisierte Verkaufsbuden, wo sich die Reisenden mit Spikes ausstatten und in Schlangen zu ihrem Rundgang durch die Schneeberge aufbrechen.
Sie wandern anderthalb Stunden mit dem Ziel, eine neue Farbe zu finden, die aus Spalten und Höhlen dringt. Es ist eine Farbe, die sie nie zuvor gesehen haben - nicht Dunkelblau, nicht Himmelblau, nicht Türkis - und die sie nach langen Diskussionen einfach provisorisch „Gletscher-Blau“ nennen. Vor dem Rückweg besiegeln die Reisenden ihren Entschluss, indem sie mit einem irischen Whiskey anstoßen, der von den Bergführern serviert und mit Eis des weißen Riesen gekühlt wird.
Um den Perito Moreno kennenzulernen, muss man zuerst in ein Dorf gelangen, das El Calafate heißt. Flugzeuge landen dort mindestens dreimal täglich und bringen Menschen aus aller Welt. Die Straßen von El Calafate werden im Frühjahr matschig, und der Wind verteilt überall den Abfall von einer Mülldeponie, die angesichts des touristischen Wachstums zu klein und an falscher Stelle gebaut worden ist. Der Himmel ändert sich wie das Klima, er ist morgens bewölkt und dämmert abends sonnig, oder andersherum. Hier sind die Tage im Sommer ewig und im Winter viel zu kurz, wenn die Einwohner auf Schlittschuhen über das Eis gleiten und die Einsamkeit genießen.