Reisen Eine Nacht in Venedig

Leise Musik und lange Schatten — im Advent kehrt in der beliebten Touristenstadt Ruhe ein. Sogar die Gondeln haben Pause.

Foto: dpa/Andrea Warnecke

Es ist, als ob von einem Balkon im Cannaregio-Viertel an diesem Abend Weihnachtslieder in die dunklen Gassen herabrieseln und in den schwarzen Kanälen zwischen den fest vertäuten, mit blauen Planen bedeckten Booten versinken: Erst die Melodie von „Stille Nacht, heilige Nacht“, dann ein italienisches Lied zu einer anderen Notenfolge — bis jemand oben in der Wohnung im zweiten Stock die Balkontür wieder schließt, die Musik nun fast verschwunden ist. In zwei Fenstern hängen elektrisch beleuchtete Weihnachtssterne, ein paar Schritte weiter sind Kerzen hinter einem großmaschig gewebten Vorhang zu erahnen. Und irgendwo in der Ferne läuten die Glocken einer Kirche.

Foto: Helge Sobik

Ruhig ist es geworden, nicht nur in den engen Gassen des alten Handwerkerviertels von Venedig, auch auf der von Geschäften gesäumten Strada Nuova, die mit ein paar Verzweigungen auf den Markusplatz führt und unterwegs ein paar Mal den Namen wechselt. Nur einzelne Schritte hallen in den Seitengassen durch die Nacht, werden von den Fassaden der drei- und viergeschossigen Häuser hin- und hergeworfen. Lange Schatten eilen über die gewölbten Brücken, und mancherorts zieht Nebel über dem Wasser auf. Von irgendwoher lacht jemand aus dem Dunkel, und in einem Hauseingang küsst sich ein Paar. Spätabends ist es still in Venedig, fast einsam in den Straßen entlang der Kanäle, in den Schluchten zwischen den Patrizierhäusern aus einer anderen Zeit.

Manchmal sogar wirkt es ein wenig geisterhaft — bis eine Straßenbiegung weiter wieder Weihnachts-Deko ins Blickfeld gerät und aus der einen Spalt breit geöffneten Tür einer Kirche Weihnachtsmelodien klingen. Diesmal sind es helle Stimmen, und noch nicht jeder Ton sitzt: Es wird die Generalprobe sein, denn für den übernächsten Abend kündigt das Plakat an der Tür die Premiere an: Auszüge aus Bachs Weihnachtsoratorium soll es geben.

In Venedig, dieser ansonsten fast immer vor Touristen überquellenden Stadt, ist in der Vorweihnachtszeit wenig los. Besonders an den Abenden. Sogar die Herren mit den flachen, hellen Hüten, die tagsüber in Grüppchen an den Stegen auf Kundschaft warten, mit einer Handbewegung auf ihre schmalen schwarzen Holzboote weisen und ständig „Gondola? Gondola?“ rufen, sind wie vom Erdboden verschluckt. Feierabend für die Gondoliere. Sie machen ihre Geschäfte zu anderen Tages- und mehrheitlich auch zu anderen Jahreszeiten.

Viele Gondeln sind ohnehin unter blauen Planen versteckt und fürs erste fest vertäut. Venedig in der Vorweihnachtszeit — das sind natürlich auch Weihnachtsmärkte wie anderswo, das sind Lichterketten, die über die Strada Nuova gespannt sind, das sind sogar ab und zu als Weihnachtsmänner verkleidete Ruderer auf dem Canal Grande, weil irgendwer meinte, so etwas würde den Tourismus ankurbeln. Es gibt Stände mit gerösteten Maronen, Süßigkeitenläden mit Bergen von Schoko-Weihnachtsmännern in Alufolie, Türme von Panettone-Kuchen.

An der Fassade des kleinen Kaufhauses nahe der Rialto-Brücke leuchten die elektrischen Weihnachtssterne, in den Schaufenstern hat es weißes Konfetti geschneit. Und sogar Weihnachtsbäume haben Einzug in die venezianische Kulisse gehalten, die Jahrhunderte lang ohne dekorierte Tannen auskam. Auch die Krippen gibt es noch, die früher auffälligstes Zeichen der Vorweihnachtszeit in der Lagunenstadt waren.

Die Abende sind etwas ganz Besonderes, Spaziergänge bei Dunkelheit, wenn die Reflexionen einzelner Lichter im Wasser der stillen Kanäle die eigentliche Weihnachtsbeleuchtung sind. Von irgendwo her zieht noch eine letzte Schwade Röst-Maronen-Geruch herüber, von anderswo her duftet es nach Vanille-Plätzchen, die gerade jemand zu Hause backt. Es sind solche Eindrücke und die Melodien durch die halboffene Balkontür oder die Gesänge durch die angelehnte Kirchenpforte, die den Zauber ausmachen. Endlich ist es still genug in der Lagunenstadt, ihn im Alltag zu finden.

Tagsüber hofft man, dass es bald wieder Nacht werden möge, damit der nächste Spaziergang für die Sinne beginnen kann. Was Einheimischen wie Gondelbauer Lorenzo della Toffola vor Weihnachten machen? „Verreisen“, sagt der wortkarge Mann. „Weil um diese Zeit weniger Gondeln fahren und deshalb noch weniger eilig zu reparieren sind.“ Es ist Nebensaison, auch auf seiner Werft Squero di San Trovaso. Was die anderen Venezianer machen? Sie kaufen Geschenke ein, später auf dem Rialto-Markt die Zutaten fürs Festessen und sie atmen durch, genießen die relative Ruhe, sind in manchem Restaurant abseits der touristischen Rennstrecken plötzlich beim Abendessen unter sich.

Erst an den Weihnachtsfeiertagen füllen sich Hotels wie Straßen langsam wieder, und an Neujahr herrscht Rummel wie im Sommer. In den Wochen vor Weihnachten aber scheint dieses adventliche Venedig zur Ruhe zu kommen. Das liegt vor allem am Wetter, denn im Dezember ist Venedig nicht diese Katalogschönheit wie auf den Karnevals- und den Sommerbildern. Schnee gibt es zwar fast nie, hauchzarte Eisschichten auf den Pfützen am Morgen manchmal. Oft ist es nasskalt, nebelig und häufig kommt es gerade um diese Jahreszeit zu Hochwasser. Ob das für Fremde schlimm ist? Eher im Gegenteil. Es ist ein Erlebnis. Eines, das zu einer Stadt in so einer Lage passt. Das Szenario bietet obendrein umso mehr Raum für gewisse Melancholie. Das ist etwas, was gerade bei Venedig fester Bestandteil der Erwartungshaltung eines Reisenden ist. Und dann ist da wieder die Melodie von „Stille Nacht“. Der Abendwind holt sie diesmal aus einem Hof, lässt sie über Dächern nicht weit vom Campo Santa Maria Formosa wieder fallen; diesmal mit italienischem Gesang. Zwei Frauenstimmen singen „Astro del ciel“, so heißt der Klassiker. Die wenigen Passanten halten an und lauschen. Der Autor reiste mit Unterstützung von Novasol.

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