Gletscher-Eis im Bärenland
Ein Stück hinter Anchorage lockt spektakuläre Natur. Bitte Steigeisen anschnallen!
„Immer den ganzen Fuß aufsetzen und fest ins Eis stampfen!“ Henry macht es vor. Sieht ganz einfach aus. „Kleine Schritte, die Fußspitze etwas nach außen drehen und ganz wichtig: Immer die Knie gebeugt halten.“ Im Gänsemarsch bewegen sich die zehn Wanderer hintereinander aufs Eis. Es geht steil bergauf — hinein in den Gletscher.
Die zwei Zentimeter langen Stahlkrampen unter den knöchelhohen Wanderschuhen bohren sich in die spiegelglatte Fläche. Auch die Wanderstöcke sind mit einer Metallspitze versehen. Sie dienen nicht nur dem zusätzlichen Abstützen, sondern sichern den Halt. „Wenn ihr Wasser fließen seht, erst mal mit dem Stock testen, ob das Eis darunter brüchig ist“, ruft Henry, der die Gruppe im Zickzack-Kurs durch das unwegsame Gelände führt. Der Guide ist fast jeden Tag auf dem Exit Glacier im Kenai Fjords Nationalpark unterwegs, kennt alle Gletscherspalten — und den sichersten Weg hinauf.
Schon nach 20 Minuten wird es anstrengend. Ab und zu lässt der Druck auf die Eiskrampen nach, doch jede Unkonzentriertheit wird sofort bestraft.
Der Fuß rutscht zur Seite. Schnell den Stock ins Eis rammen! Der Helm verrutscht leicht, unter der dicken Jacke rinnt der Schweiß. Die Muskulatur verspannt sich, der Rucksack mit Wasserflaschen und Proviant muss eng an den Körper geschnallt sein: Den Bauchgurt zu schließen ist Pflicht. „Falls ihr in eine Gletscherspalte fallt, ziehen wir euch mit einem Haken am Rucksack wieder hoch“, ruft Henry lachend. Wahrscheinlich meint er es sogar ernst.
Zweieinhalb Stunden hatte der Aufstieg zum Exit Glacier gedauert, auf einem schmalen Pfad, der sich vom Eingang des Nationalparks steil bergauf windet. Auch hier sind die Wanderstöcke unentbehrlich, denn es geht über Geröll, am Ende sogar über einen völlig unbefestigten Trampelpfad mit querliegenden Baumstämmen mitten durchs Gestrüpp. „Kondition braucht man, es ist ein anspruchsvoller Weg hier hoch“, sagt Henry — leider erst am Etappenziel, dem Exit Glacier. Er markiert den östlichen Punkt des „Harding Icefield“, des 780 Quadratkilometer großen Gletschergebiets zwischen Kenai Mountains und Golf von Alaska. Immer wieder kommt die riesige Eisfläche in Sichtweite, sticht in ihrem grellen Weiß aus der grün-grauen Berglandschaft hervor. Darüber blauer Himmel mit blendender Sonne. Kein einziges Staubkörnchen verschmutzt im Süden Alaskas die Luft, sie scheint beim Atmen sogar leichter in die Lungen zu dringen, als anderswo. Sie ist so rein und klar, dass auch die weit entfernten Berge ein gestochen scharfes Panorama abgeben. Kontraste, als glitzerte jedes einzelne Sauerstoffatom.
Anblick und Anstrengung sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Gebiet „Bear Country“ ist. Jederzeit könnte man einem Braunbären gegenüberstehen — für den Fall gibt es am Eingang des Naturschutzgebietes Hinweistafeln mit Verhaltensvorschriften. Zum Beispiel, sich beim Wandern zu unterhalten, damit man sich nicht versehentlich an einen Bären anschleicht und ihn überrascht.
Die meisten haben dafür allerdings keine Luft mehr, konzentrieren sich auf jeden Schritt. Nur die drei Guides plaudern locker über Pflanzen- und Tierwelt, allen voran Henry. „Immer die Umgebung beobachten“, rät er. Leicht gesagt. Wer hier nicht seine Füße fixiert, fällt auf die Nase.
„Bären begegnet man hier ständig“, weiß auch Brigitte. Die Deutsche lebt seit vielen Jahren in Alaska, in dem kleinen Ort Girdwood — irgendwo mitten im Wald, umgeben von Bergen und dunkelblauen Seen. Heute ein traumhaftes Skigebiet, wurde der Ort im 19. Jahrhundert von den Goldsuchern erschlossen. Braunbären kommen dort bis zu den Häusern, deshalb sind alle Mülltonnen mit einer speziellen Bärensicherung ausgestattet. „Wenn man ein Junges sieht, sollte man sich fernhalten, denn die Mutter ist nie weit“, sagt Brigitte. Die Erfahrung hat sie selbst gemacht, als sie ein Junges fotografieren wollte und plötzlich der Mutter begegnete. „Es ist nichts passiert, aber heute weiß ich, wie gefährlich das war.“
Die Bären sind vergessen, sobald die Schritte im Eis knirschen. Überall plätschern winzige Rinnsale. Tauwasser, das sich seinen Weg bergab bahnt. Immer wieder tauchen knallblaue Flächen auf: Eis in seiner reinsten Form. Blau sind auch die Wände der metertiefen Spalten, an denen es auf schmalen Eisstegen vorübergeht. Manchmal kaum breiter als ein Meter. Dann kribbelt es ein wenig im Magen. Bloß nicht abrutschen! Doch das Erlebnis, auf einem Gletscher zu stehen, einem Relikt aus der Zeit um etwa 600 000 v. Chr. und Teil der weltweit letzten Süßwasserspeicher — das ist schon etwas ganz Besonderes.