Grenzturm mit Aussicht - „Dorfrepublik“ als Geheimtipp

Rüterberg (dpa) - Die Landschaft raubt dem Besucher den Atem: Durch die einstigen Schießscharten in den dicken Betonwänden des alten Grenzturms im mecklenburgischen Rüterberg beobachtet Manfred Bailer den Anflug von Graugänsen in die Elbauen.

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„Zugvögel fallen hier in Scharen ein, und der Seeadler sucht regelmäßig nach Beute“, erklärt der 75-jährige Besitzer des denkmalgeschützten Relikts der deutsch-deutschen Teilung. Zusammen mit Ehefrau Karin, die westlich der früheren Staatsgrenze im niedersächsischen Dannenberg gleich gegenüber aufwuchs, kaufte Bailer den Wachturm 1991 samt umliegendem Flussgrundstück von einem Rüterberger Bürger als Feriendomizil.

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Der Turm steht erhöht auf einer Landzunge über einer Elbbiegung. Er misst elf Meter in der Höhe und vier mal vier Meter im Grundriss. Gebaut wurde er Anfang der 1980-er Jahre aus Stahlbeton als einer von rund 720 dieser Kontrollpunkte der DDR-Grenztruppen entlang des „Eisernen Vorhangs“ zur Bundesrepublik. Der Rüterberger Beobachtungsposten war obendrein Befehls- und Leitstelle im „Todesstreifen“, wie Manfred Bailer weiß. 1990 sollte er so wie fast alle anderen abgerissen werden.

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Doch die Käufer aus Freiburg in Baden-Württemberg kamen mit der Übernahme des historischen Grenzbauwerks und dem Umrüsten in eine Urlaubsbleibe den Baggern zuvor. „Der Turm war vollgestopft mit Elektrik, Geräten und Kabeln“, schildert Karin Bailer. Sprichwörtlich die Zähne bissen sich die neuen „Türmer“ an den stählernen Treppen und Luken, den kugelsicheren Wänden und steinharten Böden aus. „Um Fenster reinzuschneiden, benutzten wir Diamantschleifer.“

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Die Verwandlung des alten Grenzturms in eine private Freizeitoase, die seit neuestem sogar an Touristen vermietet wird, beobachtete manch Rüterberger mit gewissem Argwohn, wie Meinhard Schmechel (67) zugibt. Der frühere Grenzsoldat hatte einst nach Rüterberg eingeheiratet und war von 1981 bis 2004, bis der Ort dem Städtchen Dömitz zugeschlagen wurde, Bürgermeister im Dorf. Noch immer hütet Schmechel die „Heimatstube“, ein winziges Museum im Dorfgasthof, das neben bäuerlichem Geschirr und einem alten Webstuhl die Dorfchronik sowie Dokumente über den Alltag im Grenzgebiet aufbewahrt.

Rüterberg hat seine ganz eigene Geschichte. Von 1961 an blockierten meterhohe Sperranlagen das Flussufer gen Westen. 1967 wurde dann der „innere Zaun“ im Osten hochgezogen und Rüterberg mit seiner exponierten Lage in einer Biegung der Elbe komplett abgeriegelt. Den 150 Einwohnern war von nun an auch der freie Zugang zur DDR verwehrt. Sie mussten für jeden Arbeitsweg ihren Personalausweis mit Polizeistempel vorzeigen, Besucher kamen gar nicht oder nur mit Passierschein durch. 1988 wurde der Zaun zur DDR-Seite hin sogar technisch noch aufgerüstet und verstärkt.

Die über Jahrzehnte eingesperrten Rüterberger hatten genug. Just einen Tag vor dem Mauerfall, am 8. November 1989, forderten sie bei einer Versammlung die „Öffnung der Grenzen zur DDR“ und erklärten ihre Gemeinde zur „Dorfrepublik“, wie Schmechel schildert. Die aufmüpfige Proklamation eines eigenen „Staates“ - nach dem Vorbild des legendären Rütlischwurs der Schweizer Urkantone - sei ein Verzweiflungsakt nach 22 Jahren gewesen, in denen die Bürger isoliert im Niemandsland zwischen Ost und West leben mussten. 1991 erkannte das Land Mecklenburg-Vorpommern den Namenszusatz „Dorfrepublik“ offiziell an.

Die Ironie der Geschichte erreichte auf dem Rüterberg den Gipfel: Erst drei Tage nach dem historischen 9. November 1989 öffnete sich die Grenze zum Osten, bis dahin eroberten die ersten unangemeldeten Gäste die „Dorfrepublik“ vom Westen her - sie kamen paddelnd über die Elbe, erzählt Schmechel.

Und die Einheimischen? „Die blieben, keiner ist nach der Wende weggezogen“, betont Schmechel. Im Gegenteil. Junge Familien kamen in das idyllische Dorf, Berufstätige und betuchte Rentner aus dem Westen bauten aus und neu. 28 Eigenheime entstanden, uralte Höfe wurden restauriert, Fremdenzimmer kamen hinzu. Heute zählt der Ort wieder rund 200 Einwohner.

Touristen reisten anfangs in großen Gruppen an, um Einblick in die verschworene Dorfgemeinschaft zu gewinnen. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung aber ist es merklich stiller in Rüterberg geworden. Die in der Dorfmitte ausgebaute Gaststätte mit Hotelzimmern ist seit zwei Jahren dicht und steht zum Verkauf. Die „Heimatstube“ unterm Dach des Hauses schließt Schmechel nur auf, wenn sich Besucher anmelden, mittlerweile eine Seltenheit.

Radfahrer, die auf dem Elbe-Radweg daherkommen, rasten meist gleich am 1999 errichteten hölzernen Aussichtsturm neben dem privat betriebenen, nun dicht von Efeu umgrünten Grenzbeobachtungsturm vorbei. „Hier hat man von erhöhtem Punkt einen tollen Blick in die Elbniederung“, meinen Reinhard und Renate Johannesson. Die Hamburger Rentner radeln regelmäßig den Fluss entlang. Auch die Geschichte, die Entwicklung der Grenzregion, fänden sie spannend. Das beste aber sei die unberührte Natur, die absolute Ruhe hier.

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