700. Geburtstag Lublin: Renaissance im Osten Europas
Europäische Geschichte, die Besuchern den Atem verschlägt. Die alte polnische Residenzstadt Lublin feiert ihren 700. Geburtstag.
Lublin. Wer sich im Nachbarland Polen etwas leisten will und kann, der sucht sich einen attraktiven Zweitwohnsitz. Favoriten sind Masuren, am Wasser und das Lubliner Land, am östlichsten Zipfel der Europäischen Union. Dort, wo die Renaissance in alter Blüte erstrahlt und wo im Sommer der Kalender überläuft von kulturellen Festivals. In diesem Jahr ganz besonders, denn die alte Metropole Lublin feiert ihre Stadtrechte, die ihr am 15. August 1317 vom späteren König Wladyslaw I. verliehen worden waren.
Sie hat viel erlebt, die Region, die heute an die Ukraine grenzt. Am Umschlagplatz von Waren, an den Handelsstraßen von der Ostsee ans Schwarze Meer und von Spanien nach Russland gelegen, brachten es ihre Bürger und Kaufleute zu gediegenem Wohlstand. Prachtvolle Bauten, von italienischen Architekten entworfen und von geschickten jüdischen Handwerkern aus deutschen Landen ausgeführt, legten ein sichtbares Zeugnis ihres Wohlstandes ab. Lublin hat aber auch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges erlitten, das Wüten des Nationalsozialismus, den Stalinismus, den Sozialismus. Immer wieder gab es einen Neuanfang.
Das Krakauer Tor öffnet den Königsweg durch die mittelalterliche Stadtanlage zum Lubliner Schloss. Am Weg stehen Bürgerhäuser, die den Geist der Renaissancezeit tragen. Etwas abseits erhebt sich die bis zu einem verheerenden Stadtbrand 1575 gotische Dominikaner-Basilika, in der Nähe die Erzkathedrale mit ihrer barocken Fassade und einem klassizistischen Kreuzgang. Am Markt steht unübersehbar das grandiose Alte Rathaus, das 1578 königliches Gericht wurde. In diesem Ambiente finden den ganzen Geburtstags-Sommer über Festivals, Märkte und Musikereignisse statt, mit Programmen für Theater-, Literatur-, Jazz- und Film-Liebhaber.
Optischer Höhepunkt wird der Karneval der Artisten und Magier vom 22. bis 30. Juli sein, bei dem die besten Jongleure aus ganz Europa ihre Kunst zeigen — am Boden wie auch auf dem Hochseil. Da stockt dem nächtlichen Publikum zuweilen der Atem.
Lublin ist eine Stadt, die alle Sinne anspricht. Auch den der Nachdenklichkeit. Jahrhunderte lang haben dort Christen östlicher und westlicher Orientierung mit Juden friedlich zusammen gelebt. Die kleine Dreifaltigkeits-Kapelle im Schloss, im 14. Jahrhundert vom Polenkönig Kasimir dem Großen gestiftet, ist vollständig mit Fresken ausgemalt, die Szenen aus dem Alten und Neuen Testament zeigen — wie auch Darstellungen der Kirchenväter aus der westlichen römischen und der byzantinisch-russischen Kirche.
Das auf diese künstlerische Weise dargestellte Zusammenleben war nicht von Dauer. Die Diktatoren des 20. Jahrhunderts überzogen die Kunstschätze brachial mit Putz und missbrauchten die Sakralbauten als Gefängnisse und Folterstätten. Erst in den jüngsten zwei Jahrzehnten wurden die Jahrhunderte alten Bilder Pixel für Pixel wieder freigelegt. Mit finanzieller Hilfe der Europäischen Union.
Nicht mehr zu retten war das jüdische Viertel rund um das Lubliner Schloss, in dem bis 1939 mehr als 40 000 Menschen zu Hause waren. Die deutschen Besatzer hatten die Bauten dem Erdboden gleich gemacht und die Bewohner deportiert und ermordet. Wer starke Nerven besitzt, kann Einzelheiten im sechs Kilometer vor Lublin liegenden ehemaligen Konzentrationslager Maydanek erfahren.
Heute ist Lublin eine vitale Stadt mit 350 000 Einwohnern plus 70 000 Studenten während der Semesterzeit. Der bekannteste Hochschullehrer war der Krakauer Philosophie-Professor Karol Wojtyla, der fast 25 Jahre lang an zwei Tagen in der Woche nach Lublin pendelte — bis er 1978 Papst Johannes Paul II. wurde.
Wer im Auto im Lubliner Land unterwegs ist oder eine Busfahrt nicht scheut, sollte unbedingt einen Abstecher ins knapp 100 Kilometer entfernte Zamosc ins Auge fassen. Diese Stadt ist in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf dem Reißbrett des italienischen Architekten Bernardo Morando entstanden — als „ideale Stadt“, Renaissance pur. Der Blick fällt über einen weitläufigen Marktplatz, auf ein herrschaftliches Rathaus mit Turm und ausladenden Treppen, umgeben von bunten, armenischen Bürgerhäusern und schattigen Arkadengängen. Auch Zamosc, als Gesamtkunstwerk ein Unesco-Denkmal, besitzt ein Schloss, eine Kathedrale, Wehranlagen und Bastionen, die unter anderem den Schweden-Angriffen widerstanden haben.
Und noch ein weiteres Kleinod lässt sich besichtigen: Kacimiercz an der Weichsel. Das Städtchen war seit dem 15. Jahrhundert ein Hafen auf dem Schifffahrtsweg nach Danzig. Die Stapelhäuser für heimisches Getreide und Waren aus aller Welt haben auch die Bürger reich gemacht — sie leisteten sich kunstvoll verzierte Häuser, die nach der politischen Wende des vorigen Jahrhunderts nach und nach ihre alte Pracht wiedererlangen. Polnische Künstler haben das Städtchen entdeckt und machen den Besuchern von Nah und Fern auch die kleinen Ruinen wieder schön.
Lublin und sein Umland ist nicht gerade ein Ziel für den massenhaften Städtetourismus. Aber wer ein Gespür hat, dass Europa mehr ist als nur der Westen, der ist dort richtig. Auch, wenn es zuweilen bei der sprachlichen Verständigung hapert, sind die Menschen offen, hilfsbereit und überaus erfreut über jede Begegnung. Eine Passantin in Lublin fragt höflich den deutschen Touristen auf der Straße, wo er denn zu Hause sei. Um dann festzustellen: „Aus dem Rheinland — so haben wir uns Jahrzehnte lang Freiheit vorgestellt.“
Der Autor reiste mit Unterstützung des Polnischen Fremdenverkehrsamtes.