Spanien Katalonien - Eine Region der Kontraste
Nur eine Autostunde von Barcelona entfernt bestimmen Ruhe und Spiritualität die weite Landschaft Kataloniens.
Das Zwitschern der Vögel dringt gedämpft durch die steinernen Mauern, als wollten sie die meditative Stille wahren, die wie ein weicher Mantel auf der Anlage des Klosters Santes Creus liegt. Sanft flattern sie um die Kuppel über dem gotischen Kreuzgang, den Jakob II., König von Aragonien, zu Beginn des 14. Jahrhunderts errichten ließ. Der Brunnen der Absolution plätschert — die Jahrhunderte lange Historie der Zisterziensermönche scheint aus allen Poren der Bauten zu dringen. Zwischen der Gründung dieses bis heute sehr gut erhaltenen Klosters im Jahr 1168 und der Vertreibung der letzten Mönche 1835 im Zuge der Säkularisierung liegen unzählige Geschichten: brutale, kuriose, imposante.
Santes Creus ist eines der drei großen Kloster auf dem Rundwanderweg „Ruta del Cister“ (Weg der Zisterzienser), der auf knapp mehr als 100 Kilometern Länge im Dreieck der nordostspanischen Provinzen Tarragona, Lleida und Barcelona durch Katalonien führt. Der Orden der Zisterzienser entstand 1098 im französischen Cîteaux und besann sich zurück auf die Werte der alten Benediktinermönche: einfaches, puritanisches Leben. Touristen finden dies in allen Facetten der drei im 12. Jahrhundert erbauten Klöster gespiegelt: karge Schlaf- und Wirtschaftsräume, zweckmäßige Grundrisse, zurückhaltende Architektur — deren wenige unauffällig-spielerische Details umso mehr faszinieren.
So verkünden beispielsweise die Kapitelle in Santes Creus, welche die schlanken Säulen des Kreuzgangs zieren und im Sonnenlicht fast majestätisch anmuten, ihre eigenen kleinen Botschaften. In jeden einzelnen dieser Säulenabschlüsse sind Figuren eingearbeitet, bei deren Anblick sich der Betrachter seiner Fantasie hingeben kann: Da sind Löwen, die sich jagen; Gesichter, die Neugierde, Schwatzhaftigkeit, Hohn auszudrücken scheinen. Da ist ein Mann, der mit einem Säbel eine Fledermaus bekämpft — seine innere Angst? Eine Sirene, die einem Mönch etwas ins Ohr flüstert, symbolisiert Versuchung. Ob es Ordensbrüder gab, die einer solchen tatsächlich erlegen sind? Die Anlage verfügt über ein beklemmend enges Gefängnis. Kalter Wind fegt durch einen steinernen Gang. Nur dort war es den Fratres — in Hochzeiten bis zu 300 — erlaubt, über Profanes zu sprechen. Kein Ort zum Verweilen.
Einblicke in das heutige Leben der Zisterziensermönche — ihre Gebete, Gottesdienste und Choräle — erlaubt das 1151 gegründete Monestir de Santa Maria de Poblet in Conca de Barberà. Es gilt als größtes bewohntes Kloster seiner Art und verfügt über ein Gästehaus. Rund 30 Ordensbrüder leben in spiritueller Gemeinschaft in den hellen Gemäuern, deren ritterburgähnliche Schnörkellosigkeit sie auf das Wesentliche fokussiert. Rund 30 Kilometer von der 1991 zum Weltkulturerbe erklärten Anlage ragt das einschiffige Kloster Santa Maria de Vallbona de les Monges aus den Hügeln Urgells. Seit dem 12. Jahrhundert siedelten dort Nonnen, noch heute beherbergt es acht. Touristen steht ein Hostel offen.
Zwischen dem ungleichen Kloster-Dreigestirn, in dessen Umkreis sich weitere sakrale Bauten befinden, zieht sich über Berge und Täler der Fernweg GR-175 entlang und gewährt auch andere als spirituelle Impressionen. Vier bis fünf Tage benötigen Wanderer, um die komplette Strecke und ihre Umgebung zu erkunden und teils faszinierendes Naturschauspiel zu erleben. Auf dem Weg vom stark mittelalterlich geprägten Städtchen Montblanc zum Wallfahrtshügel Ermita de Sant Joan beobachten Pilger, wie sich Pflanzen- und Baumarten aus dem rötlichen, steinigen und oft wurzelüberzogenen Boden an die Oberfläche recken: schattenspendende Schwarzkiefern, knöchelhohe Sträucher, aus denen Nester aus flauschigen Blüten schauen, struppiger Rosmarin, ein Gewächs, das Lavendel ähnelt, Beeren in grellrot, blau und gelb.
Auf türkisfarbenen, sternförmig gespreizten Blättern glitzert Tau. Der Morgendunst hat sich noch nicht aufgelöst, die Landschaft schlummert im dichten Nebel. Unwirklich wabern die weißen Schleier, verstärken den Duft feuchten Holzes. Baumstämme sind gefurcht wie Zeiger auf einer Uhr, doch die Zeit scheint zu stehen. Aus dem Nichts ertönt ein durchdringendes Geräusch: Touristen lassen einen schweren Klöppel auf eine rostige metallene Fläche sausen. Die Apparatur markiert die letzten paar Meter vor dem Treppenaufstieg in die spartanisch mit wenigen dunklen Holzmöbeln ausgestattete Eremitage, in der im 15. Jahrhundert eine Frau von Adel zur Einsiedlerin wurde.
Vom Wanderweg aus wirkt der massige Felsvorsprung bedrohlich. Eine spanische Flagge weht im Wind. An diesem höchsten Punkt der Einsiedelei angelangt, überkommt den Wanderer ein nahezu königliches Gefühl, gepaart mit innerem Frieden. Wie zu Beginn einer Theatervorstellung hebt sich der Nebelvorhang, präsentiert das Panorama, für dessen Bewunderung abermals die Zeit anzuhalten scheint: Eine Landschaft von enormer Weite erstreckt sich vor dem Auge, Hügel, Berge, teils dicht bewaldet, teils offen, fruchtbare, gelb leuchtende Felder, mediterran bebaute Siedlungen. Bis zum imposanten Sandsteingebirge Montserrat und den Pyrenäengipfeln reicht der Blick. Und lässt erahnen, wie viel es im kontrastreichen Katalonien zu entdecken gibt.
Die Autorin reiste mit Unterstützung von Katalonien Tourismus.