Reise-Bericht Salzseen und Vulkane im Norden von Chile
Ein ambitioniertes Tourismusprojekt will im Norden von Chile die Landflucht der Ureinwohner stoppen. Die Aymara-Indianer kehren zurück ins Hochland.
Von Null auf 4000 Meter — die Straße ins Hochland ist wie ein Fahrstuhl in den Himmel. Mit dröhnendem Motor nimmt der Bus eine Serpentine nach der anderen. Hin und wieder muss Fahrer Manuel kurz bremsen, wenn eine Gruppe Alpacas über die Straße bummelt, die Chiles Nordküste mit dem Altiplano verbindet. Zwei Stunden dauert es, um vom „Erdgeschoss“ in den „vierten Stock“ der Anden zu gelangen.
Ganz unten liegt die Küste mit Stränden und Palmenhainen. Darüber erstrecken sich tief ausgeschnittene Täler — blühende Oasen mit Mais- und Zwiebelfeldern. Im „dritten Stock“ dann die Vorkordillere, eine karge Einöde mit Kandelaber-Kakteen, die bis in 4000 Meter Höhe reicht. „Vierter Stock!“, ruft Manuel schließlich, „Altiplano“.
Das Hochland ist ein Überfall auf die Augen: die gleißende Sonne am Himmel, darunter schneebedeckte Vulkane. Betten aus grasgrünem Moos leuchten aus der Stein- und Geröllwüste. Dann hält der Bus am See von Chungará, einem der höchstgelegenen der Welt, in dessen Oberfläche sich der 6348 Meter hohe Kegel des Parinacota spiegelt. Der Chungará-See ist Teil des Lauca-Nationalparks, in dem nicht nur Lamas, Guanacos und Vicuñas unter Schutz stehen, sondern auch rund 120 Vogelarten und der seltene Bergpuma.
Die Menschen der Region dagegen hat man lange Zeit vernachlässigt: Am Fuße der Berge lebt das Volk der Aymara. Jahrzehntelang war es Politik, die Ureinwohner zum Arbeiten an die Küste zu locken. Im Hochland entstanden indessen Geisterdörfer, die Kirchen aus der spanischen Kolonialzeit begannen zu verfallen.
Diesen Trend umzukehren, hat sich die „Fundación Altiplano“ vorgenommen. Die Stiftung investiert in den Aufbau einer „Route der Missionen“. Sie restauriert historische Kirchen und unterstützt die Aymara, die in die Berge zurückkehren wollen, beim Aufbau von Pensionen und Restaurants. „Ohne Tourismus werden die Dörfer sterben“, sagt Christian Heinsen, der deutschstämmige Chef der Stiftung.
Im Dorf Belén, dem Hauptort der Route, ging die Strategie schon auf: Die alte Lehmkirche von 1793 ist saniert, das einstige Pfarrhaus wurde in eine Unterkunft verwandelt. „Der Geschmack von Belén“ heißt ein kleines Restaurant, das sich Victoria Mollo mit Förderung der Stiftung aufgebaut hat. Ihre Zutaten produziert die 48-Jährige selbst: Kartoffeln und Mais kommen vom eigenen Acker, daneben weiden Schafe und Alpacas.
Dennoch ist es schwer, die Aymara von dem Konzept zu überzeugen. Die Ureinwohner sind misstrauisch gegenüber Initiativen von Weißen. Früher wurden sie abfällig als „Lamas“ beschimpft. „Die Diskriminierung hat heute nachgelassen“, sagt Estela Gonzáles, eine Reiseführerin, die mit einem Aymara verheiratet ist. „Früher wollten die Ureinwohner keine ‚Indígenas’ sein“, sagt die Chilenin. „Heute sind sie stolz darauf.“ Viele lernen wieder ihre überlieferte Sprache, die zwischenzeitlich schon im Verschwinden begriffen war. Barrieren gibt es trotzdem noch. So ist González als resolute Weiße in der Familie für die Behördengänge zuständig. Ihr Mann kauft dafür auf dem Markt ein. „Als Nicht-Aymara würde ich dort den fünffachen Preis bezahlen“, sagt Estela.
Das Misstrauen der Indianer zeigte sich auch im idyllischen Dörfchen Socoroma, als die Altiplano-Stiftung die historische Kirche restaurieren wollte — originalgetreu mit Lehm und Stroh. In den Augen der Spender ist das Gotteshaus aus dem Jahr 1570 ein koloniales Schmuckstück, nach Meinung vieler Aymara ein maroder alter Bau. Sie wollten ihn lieber abreißen und aus Beton neu errichten. Auch um zu zeigen, wie modern sie denken. Erst nach langer Diskussion setzte sich die Stiftung durch. Und verknüpfte die Sanierung mit einem Ausbildungsprogramm.
„Wir hatten unsere Jahrtausende alten Techniken verlernt“, sagt der Aymara-Indianer Mariano Qutipa, der die Arbeiten leitete. „Jetzt können wir wieder mit dem Adobe-Lehm bauen wie unsere Vorfahren.“ Während die Männer die Kirche restaurierten, erneuerten die Frauen die historischen Fresken. Dem heiligen Franz von Assisi gaben sie dabei ein dunkelhäutiges Gesicht. „Früher malten wir alle Figuren mit weißer Hautfarbe — weil wir selbst lieber weiß sein wollten“, sagt Baumeister Qutipa.
Je tiefer man ins Hochland vorstößt, desto rauer wird die Landschaft. Der Bus rattert und bockt auf der Wellblechpiste. Einsame Täler gleiten vorüber und kleine Schluchten. Rauchwolken schweben über dem aktiven Vulkan Guallatire. Dann schimmert eine weiße Fläche am Horizont: In 4245 Metern Höhe erstreckt sich mit dem Salar de Surire ein gewaltiger Salzsee. Von einer grünen Pflanzenkruste überzogene Steine wirken wie aus dem Weltall abgeworfen. Zwischen den Brocken laufen Nandus umher, Flamingos picken im Salzwasser. Hin und wieder dringt ein Schwefelhauch von den benachbarten heißen Quellen herüber. So stellt man sich das Ende der Welt vor. Wer noch weiter will, muss in den „fünften Stock“: auf die eisigen Gipfel der Vulkane.
Der Autor reiste mit Unterstützung von Turismo Chile.