Die Partytram Volle Dosis Berlin: Ein Abend in der M10
Berlin (dpa) - Juliano trägt lange Ohrringe, lila gefärbte Haarsträhnen und sieben Ringe an zwei Händen. Der 24-Jährige sieht aus, als hätte er kein Problem, ins Berghain reinzukommen, den berühmten Berliner Club.
An diesem Freitagabend ist er mit der Straßenbahnlinie M10 unterwegs.
Dass die Bahn den Spitznamen „Partytram“ trägt, hat mit den Bars, Clubs und Restaurants in dem Ausgehviertel von Friedrichshain zu tun. Juliano selbst steigt in der Nähe der Simon-Dach-Straße für eine Drei-Euro-Pizza aus.
„Für mich ist die M10 eine meiner Lieblingslinien, weil hier immer etwas los ist und sie in die richtige Richtung führt. Da weiß man, dass etwas passiert“, sagt der Student und Fotograf, der den selbstgewählten Künstlernamen „Patchboy“ trägt. Die Tram verbindet er „mit Party“, weil am Wochenende ab 22.00 Uhr immer sehr viel los sei.
Aber gibt es noch das wilde Partytreiben in der M10? Zumindest an diesem Abend geht es vergleichsweise zahm zu. Hier ein paar kichernde Mädchen, dort das obligatorische Wegbier neben angebrochenem Weißwein, der die Runde macht. Ein 33-Jähriger sagt, er fühle sich „zu alt für Party“. Vereinzelt sind kleinere Grüppchen zu sehen. Grölende Junggesellen-Abschiede? Fehlanzeige. Laura (19), Natalie (18) und Marc (19) sind mit der M10 zur Kulturbrauerei unterwegs. In der Gegend gehen sie Burger essen, zu Konzerten oder Tanzen. Die Stimmung der Reinickendorfer ist schon mal gut und aufgekratzt.
Ein richtiger Partygänger findet sich mit Mo. Der 19-Jährige steigt um 23.30 Uhr ein und sagt: „Ich hoffe, hier hat keiner Probleme mit guter Musik“. Er hat drei Mädchen im Schlepptau, die mit ihren Blicken die Reaktion der anderen Fahrgäste prüfen. Mo spielt Hiphop-Musik aus den Boxen seines Rucksacks. Neun Stationen lang dröhnt der Song „Gang Signs“ durch die Tram. Die Gruppe hat sich gerade kennengelernt. Die Vier trinken Alkohol, lachen und unterhalten sich laut. Am Volkspark Friedrichshain wird Mo von seinen neuen Freundinnen aus der Bahn gezogen. Es geht draußen weiter.
Petra Reetz, Sprecherin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), kennt den Ruf der M10 als Nachtschwärmer-Express. „Wenn die Fahrgäste gut gelaunt sind, freuen sich auch die Fahrer.“ Solange sich alle an die Regeln hielten und keine offenen Getränke dabei hätten, störe es nicht. Besonders nachts kontrolliert das BVG-Sicherheitspersonal auf der M10 die Züge. Im Vergleich zu den Vorjahren habe sich die Situation inzwischen „deutlich beruhigt“ und „gegenseitige Rücksichtnahme“ durchgesetzt, so Reetz.
Neu ist, dass die M10, die derzeit zwischen Hauptbahnhof und Warschauer Straße fährt, auch Richtung Süden bis in den Bezirk Neukölln verlängert werden soll. Alte Straßenbahngleise liegen seit den 90er Jahren in der Fahrbahndecke an der Oberbaumbrücke. Eine Anbindung an Moabit, auf der anderen Seite, ist schon konkreter.
Einst gab es in allen Innenstadtteilen „das verrückteste Straßenbahnnetz der Welt“, erklärt Reetz. Den „intelligenten Planungen“ sei es zu verdanken, dass man nun auf bereits angelegte Gleisbetten zurückgreifen könne. Genauso klug müsse nun für die nachfolgenden Generationen geplant werden.
Auch wenn der Verkehrssenat die Bauvorhaben noch beschließen müsse und die Ausschreibung bisher nicht erfolgt sei, hofft Reetz auf eine Entscheidung des Senats, bis 2021 wenigstens die sechs Haltestellen zwischen Hauptbahnhof und U-Bahnhof Turmstraße fertigzustellen. Im Westen wäre das was Neues: 1967 fuhr die letzte Straßenbahnlinie im ehemaligen Westteil der Stadt. Jetzt soll sie in stillgelegten Teilen des Verkehrsnetzes reaktiviert oder erweitert werden.
Den Ausbau der M10 bis zum Görlitzer Park? Mo fände das „perfekt“. Der 24-Jährige könnte dann öfter seine Lieblingsbar besuchen. Dass die Tram-Anbindung zum „Görli“ als Umschlagplatz für Drogen irgendwann einmal negativen Einfluss haben könnte, kann sich sein Freund Juliano „noch nicht ausmalen“. Aufputschmittel besorgten sich die Berliner sowieso nicht auf der Straße, sagt er. Das wäre eher etwas für Touristen. In Partylaune sind die beiden jungen Männer heute nicht mehr. Sie kommen gerade aus einer Bar. Nach der Fahrt mit der M10 wollen sie einfach nur Zuhause etwas kochen.