Warschau: Mit dem Fahrrad auf dem Königsweg
Warschau schickt sich an, eine radfreundliche Stadt zu werden. Auf 450 Kilometern sind die Wege bereits gekennzeichnet.
Warschau. Polens Hauptstadt boomt. Als Finanzplatz, als Baustelle gläserner Wolkenkratzer, als Metropole mit einem vorbildlichen öffentlichen Verkehrssystem. Und nun ist Warschau auf dem besten Weg, auch eine Fahrradstadt zu werden. 450 Kilometer Stadt-Straßen haben schon heute eigene gekennzeichnete Radwege. In den nächsten zwei Jahren sollen mehr als 100 Kilometer hinzukommen.
„Wir sehen das Fahrrad als ein öffentliches Verkehrsmittel“, sagt Mikolaj Pienkos von der Stadtverwaltung. Im City-Bereich der Zwei-Millionen-Stadt stehen an 200 komplett vernetzten Rad-Stationen insgesamt 3000 Leih-Fahrräder für jedermann zur Verfügung. Im kommenden Jahr werden es schon 4000 Räder an 300 Stationen sein. Hinzu kommen — in hügeligem Gelände — an zehn Stellen in einem ersten Schritt rund 100 Elektro-Bikes.
Wer einmalig für zehn Zloty (rund 2,50 Euro) auf seinem Handy ein Konto eingerichtet hat, kann die ersten 20 Minuten kostenlos fahren. Danach werden ihm für die erste Stunde ein Zloty, für die zweite Stunde drei und für drei Stunden insgesamt zehn Zloty abgebucht.
Wer Warschau erkunden will, ist mit dem Fahrrad auf einem guten Weg. Und er ist gut beraten, wenn er sich einer geführten Gruppe anschließt. Denn der Abgleich von Stadtplan und Straßenschildern ist für alle, die der polnischen Sprache nicht mächtig sind, ein mühsames Unterfangen.
Nun wird es heikel. Was muss man sehen, was sollte man sich nicht entgehen lassen, was ergibt sich sozusagen am Weg, wenn man in Warschau von A nach B radelt? Da tun sich drei zentrale Themenfelder auf.
Unübersehbar überall im Bild der Stadt: Gedenkstätten, die an die Gräuel der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg erinnern. Als die Waffen schwiegen, waren Millionen Menschen getötet, war die Innenstadt zu 98 Prozent dem Erdboden gleich gebombt.
Es folgte nahtlos der Kommunismus. Dessen steinernes Denkmal ist der klotzige Kulturpalast, der so recht ins Marszalowska-Viertel im Stil des Moskauer Sozialistischen Realismus passt.
Und dann kommt ein Kapitel, für das die Polen in ganz Europa berühmt sind: der Neuaufbau ihrer pulverisierten Altstadt, ihrer Königsschlösser und — ganz aktuell — die Umwandlung von heruntergekommenen Vorort-Vierteln wie Praga an der Ostseite der Weichsel in schicke Szene-Quartiere.
Eine Radtour, auf der von allem etwas zu sehen ist, führt über den gut zehn Kilometer langen sogenannten Königsweg. Den ritten und kutschierten ehemals die polnischen Herrscher mit ihrer Entourage vom frühbarocken Stadtschloss Krolewski durch grüne Parks mit Schlösschen und Bädern bis hin zu ihrer Sommerresidenz Wilanow.
Start ist am Altstädter Markt. Dort tummeln sich Touristen, brummt die Gastronomie, warten die Fiaker auf Kundschaft. Die Warschauer selbst sprechen von der „jüngsten Altstadt der Welt“. Dass die Patrizierhäuser des 17. und 18. Jahrhunderts aus der Asche wieder auferstanden und zu Weltkulturerbe-Schönheit aufgeblüht sind, verdankt Warschau alten Zeichnungen und Gemälden, nach denen neu gebaut werden konnte. Besonders der italienische Maler Bernardo Bellotto, genannt Canalotto, hatte Mitte des 18. Jahrhunderts wirklichkeitsgetreue Stadtansichten (Veduten) geschaffen, die das Inferno der 1940er-Jahre in sicherem Versteck überdauert haben.
Der Königsweg führt über die verkehrsberuhigte Einkaufsstraße Nowy Swiat (Neue Welt) vorbei an prächtigen Kirchen und Stadtpalästen zum Pilsudzki-Platz. Dort stand einst der Brühlsche Palast, von dem nur noch Arkaden die Zerstörung überdauert haben. Unter dem Dach halten Soldaten Ehrenwache am Grabmal des Unbekannten Soldaten. Dahinter erstreckt sich in historischer Schönheit der Sächsische Garten, die Grüne Lunge Warschaus.
Der Radweg führt weiter vorbei an der eindrucksvollen Warschauer Universität (gegründet 1816) und der Kirche vom Heiligen Kreuz. Dort wird, eingemauert in einem Pfeiler, eine kostbare Reliquie des größten Sohnes der Stadt in einer Urne aufbewahrt: das Herz des in Paris begrabenen Komponisten Fryderyk (französisch Frédérik) Chopin (1810-1849).
Der Königsweg führt weiter durch die wunderschöne Lazienki-Parkanlage, die Lieblingsresidenz des Königs Stanislaw August Poniatowski (1732-1798). Es gibt den königlichen Inselpalast zu bestaunen, die Alte Orangerie — und ein mächtiges Chopin-Denkmal, unter dem an Sommer-Sonntagen um 12 und um 16 Uhr namhafte Pianisten Chopin-Werke spielen. Die Zuhörer machen es sich auf der grünen Wiese mit Decken und Picknickkörben bequem. Der Eintritt ist frei.
Der Königsweg endet an Schloss Wilanow im Süden der Stadt. Jan II. Sobiewski ließ sich 1677 diese barocke Sommerresidenz errichten, die von einem italienischen Barockgarten und einem ausgedehnten englischen Park mit Seen, Brücken und Pagoden umgeben ist. Alt und neu — neben den Bauten angesagter Architekten wie Daniel Libeskind (Bürokomplex Metropol) und Norman Foster (Trade Tower) fällt mitten in Warschau das Museum für die Geschichte der Juden in Polen ins Auge. Entworfen von den finnischen Architekten Mahlamäki/Ladelma schildert der eigenwillige Glas-Bau, durch den ein Spalt wie beim biblischen Zug durch das Rote Meer geht, eindrucksvoll Leben und Leiden der Juden über tausend Jahre. Das Haus, vis à vis des Ghettodenkmals, vor dem am 7. Dezember 1970 der deutsche Bundeskanzler Willy Brand erschüttert auf die Knie fiel, ist aktuell zum europäischen Museum des Jahres 2016 gekürt worden.