Wo sich Nord- und Ostsee küssen
In Nordjütland, der nördlichsten Spitze von Dänemarks Festland, warten Wasser, Sand sowie ungewöhnliche An- und Ausblicke.
Türkisblau ist das Wasser, das im Nordwesten in sanften Wellen an den Strand spült. Grünlich wie ein Dschungelfluss ist es im Osten. An der Spitze der langen, schmalen Sandbank fließen beide Gewässer zusammen. Träge schwappen die Wellen aneinander, vermischen sich zu einem Meer.
Ruhig und idyllisch wirkt die Szenerie — zumindest, wenn man es schafft, sich auf die meditativ rauschenden Wellen zu konzentrieren und die Massen an Menschen auszublenden, die die Sandbank bevölkern. Lemmingen gleich waten sie in einer langen Schlange ins Meer. Immer darauf bedacht, ja mit einem Fuß im türkisblauen Wasser zu stehen und mit dem anderen im grünlichen. Denn nur dann bekommen sie das eine Urlaubsfoto, für das sie extra hergekommen sind.
Aus der Ferne ertönt ein lautes Tuckern. Ein Traktor mit extradicker Bereifung wälzt sich über den breiten Strand, im Anhänger sitzen weitere Menschen, die sich nach dem Halt wie ein steter Strom auf die Sandbank ergießen. Im Gegenzug steigen andere wieder ein — nach dem Ausflug ins Wasser oft mit nassen Hosenbeinen, die Schuhe in der Hand.
Dort oben, an der Nordspitze des dänischen Festlandes, treffen Nord- und Ostsee aufeinander. Oder Skagerrak und Kattegat, wie sie in Skandinavien heißen. Das Ausflugsziel Grenen, so der Name der Sandbank, ragt wie ein Ast (dänisch „gren“) ins Meer. Ihre Lage und Form können sich von Tag zu Tag erheblich ändern, je nach Strömungs- und Windverhältnissen.
Drei Kilometer nördlich der Ortschaft Skagen gelegen, lockt sie täglich tausende Touristen an. Pro Jahr sind es mehr als eine Million. Sie müssen allerdings ein Stück vom Strand entfernt parken. Die Landzunge selbst erreicht man nur zu Fuß oder eben mit dem Touristentransporter Sandormen, dem Sandwurm, gezogen von den kräftigen Traktoren.
Antonio „Toni“ Jespersen fährt einen von ihnen. Der studierte Bauunternehmer hat vor einigen Jahren den Beruf gewechselt und sich eine Konzession fürs Sandwurmfahren besorgt. „Das ist deutlich entspannter als mein früherer Job“, sagt er lachend. Von früh bis spät chauffiert er die Touristen raus an den Strand. Der Sandwurm hat keinen festen Fahrplan. Sobald der Anhänger voll ist, geht es los.
Einen derart komfortablen Service gibt es an einer anderen Touristenattraktion Nordjütlands nicht. Der Leuchtturm von Rubjerg Knude ist tatsächlich nur zu Fuß erreichbar. Der Weg führt zwischen Wiesen und Weiden hindurch. Eine Herde Schafe begleitet die Besucher ein Stück am Zaun entlang. In regelmäßigen Abständen stehen Holzpfähle am Wegrand. 2022, 2021, 2020, 2019 — je näher man dem Ziel kommt, desto niedriger ist die darauf gemalte Jahreszahl.
Und desto mehr Sand bedeckt den Wanderweg. Hinter der letzten Biegung erheben sich plötzlich Berge aus Sand. Und ja, im flachen Dänemark kann man von Bergen sprechen. In der Senke dazwischen steht der Leuchtturm, rund um ihn herum liegen die Ruinen des Wärterhäuschens und von Nebengebäuden. Im Innern des Turms führt eine Wendeltreppe zu einer Aussichtsplattform, die weite Ausblicke über das Land und die nahe Nordsee erlaubt. Noch.
Denn wie lange das möglich ist, weiß keiner. Die Sandberge sind eine Wanderdüne. In den vergangenen Jahrzehnten hat der Wind den Sand immer weiter angehäuft — teilweise mehr als 100 Meter hoch. Rubjerg Knude ist damit die höchste Wanderdüne Europas. Und sie bewegt sich ins Landesinnere. Unaufhaltsam. Das erklärt die Jahreszahlen auf dem Hinweg: Forscher haben errechnet, in welchem Jahr die Düne welchen Punkt erreicht.
Für den Leuchtturm bedeutet das, dass er eines Tages verschwinden wird. Die dänische Naturbehörde rechnet seit November 2017 wegen der nur noch acht Meter betragenden Entfernung zum Meer mit dem baldigen Sturz in die Nordsee. „Sobald die Entfernung auf weniger als fünf Meter schrumpft, wird aus Sicherheitsgründen der Zugang zum Turm gesperrt“, erzählt Guide Amalie Anders.
Schon ein Wintersturm kann dafür ausreichen. Die Gebäude rund um den Turm hat der Sand bereits verschlungen, zeitweise war auch der Leuchtturm größtenteils von Sand bedeckt. „Falls es noch möglich ist, will die Naturbehörde das Gebäude rechtzeitig abbauen“, sagt Amalie.
Solange tummeln sich Touristen rund um den und auf dem Leuchtturm. Sie erklimmen mühsam die hohen Dünen, versinken knöcheltief im Sand, rutschen auf dem weichen Untergrund immer wieder ein Stück zurück. Doch die Mühe lohnt sich: Denn von dort oben können sie vielleicht eines der letzten Fotos der Sehenswürdigkeit knipsen.
Weniger hoch, aber nicht minder imposant ist eine andere Wanderdüne weiter im Norden: die Råbjerg Mile. Sie wandert auf der nur sechs Kilometer breiten Nordspitze Dänemarks von Westen nach Osten. 120 Hektar groß und bis zu 40 Meter hoch, ist sie auf Satellitenbildern als großer hellgelber Fleck gut erkennbar. Wer die Düne besteigt, hat das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Leichter Wind wirbelt den Sand auf, die feinen Körnchen schwirren durch die Luft und lassen die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu einem diffusen Licht verschwimmen. Ein wüstenhaftes Panorama.
Unwillkürlich fragt man sich, warum die Prequel-Trilogie von Star Wars teilweise in Tunesien gedreht wurde. Die Råbjerg Mile hätte einen hervorragenden Sandplaneten Tatooine abgegeben. Jedes Jahr legt die Düne durchschnittlich 15 Meter zurück. 2130 soll sie Berechnungen zufolge die 3,5 Kilometer entfernte Landstraße nach Skagen erreichen und nach weiteren 30 Jahren in der Ostsee verschwinden. Anders als beim Leuchtturm von Rubjerg Knude ist also noch genügend Zeit für einen Besuch.
Die Autorin reiste mit Unterstützung von VisitDenmark.