Auf Humboldts Spuren Vulkan-Trekking auf dem Chimborazo in Ecuador
Quito (dpa/tmn) - Alexander von Humboldt bluten die Hände, als er sich die steilen Hänge des Chimborazo hinaufkämpft. Es ist der 23. Juni 1802 in den Anden des heutigen Ecuadors, das scharfe Gestein des Vulkans schlitzt bei jedem Fehltritt die Haut auf.
„Unsere Begleiter waren vor Kälte erstarrt und ließen uns im Stich“, notiert Humboldt später in seinem Tagebuch. „Sie versicherten, sie würden vor Atemnot sterben, obwohl sie uns wenige Stunden zuvor voller Mitleid betrachtet und behauptet hatten, daß die Weißen es nicht einmal bis zur Schneegrenze schaffen.“ Eine Fehleinschätzung. Der berühmte Naturforscher steigt so hoch wie kein Mensch zuvor. Heute ziert der 6268 Meter hohe Vulkan das Wappen Ecuadors.
Humboldt beklagte damals noch das Fehlen eines einheimischen Führers. Auf diesen Komfort müssen Trekkingtouristen heute nicht verzichten. Die Agenturen in Ecuadors Hauptstadt Quito bieten eine kommerzielle Besteigung des technisch leichten Vulkans auch für Reisende an, die noch nie auf Steigeisen gelaufen sind. Der Aufstieg ist keine Pionierleistung mehr, aber immer noch ein großes Abenteuer. Viele scheitern, an der Höhe, an der Kondition.
„Todo bien?“ Alles in Ordnung? Bergführer Wily Rivera Iza, 29, dreht sich in der milden Gipfelnacht immer wieder zu seinem Klienten um und erkundigt sich nach dessen Wohlbefinden. Es ist gut zwei Stunden nach Mitternacht, jenseits von 5200 Metern, Sterne am Himmel. Die Route führt bald über den Gletscher, steil bergan. Die Luft ist schon ziemlich dünn. Das Atmen fällt schwer. Sí sí, todo bien, noch.
Wer sich unvorbereitet an den Chimborazo wagt, wird scheitern oder riskiert seine Gesundheit. Eine gute Akklimatisierung ist wichtig, sonst droht „Soroche“, die Höhenkrankheit.
Die Symptome beschrieb Humboldt vor mehr als 200 Jahren als erster: „Wir fühlten eine Schwäche im Kopf, einen ständigen Schwindel, der in der Situation, in der wir uns befanden, sehr gefährlich war.“ Hinzu kamen Übelkeit und Zahnfleischbluten.
Für den Chimborazo braucht man deshalb eine Woche Zeit. Die rund 300 Kilometer lange „Straße der Vulkane“ in Ecuador bietet zum Glück viele Optionen, um sich auf die Nacht der Nächte vorzubereiten.
Fünf Tage zuvor sitzt Bergführer Wily auf der Terrasse einer Hacienda nördlich von Quito und bespricht die Touren: zuerst auf den Fuya Fuya (4263 Meter), dann auf den Imbabura (4630 Meter), zuletzt eine kleine Technikschulung am Vulkan Cayambe in etwa 5000 Metern Höhe. So kann sich der Körper langsam an die Höhe gewöhnen.
Wily stand schon mehr als 100 Mal auf dem Gipfel des Chimborazo. „Wenn du dich nicht gut angepasst hast, wirst du Probleme bekommen, und wir müssen umkehren“, warnt der kleine stämmige Ecuadorianer mit den sanften Augen. In großer Höhe seien sogar Halluzinationen möglich, erklärt Wily. „Manche Kunden haben dort schon Bären und Füchse gesehen.“
Die Tour auf den Fuya Fuya beginnt ganz zahm an der Laguna Mojanda auf 3600 Metern. Von oben kann man bis nach Quito schauen, was überrascht, weil die Autofahrt zum Berg zwei Stunden gedauert hat. Man bemerkt: Die Ausdehnung des Vulkans ist gewaltig. Der Fuß hat einen Durchmesser von mehreren Kilometern.
Ecuador hat die höchste Vulkandichte der Welt. Unter dem Land brodelt es quasi ständig. Im Sommer 2015 war der Cotopaxi zuletzt aktiv, bis dato einer der beliebtesten Trekkingberge des Landes. Die Asche flog bis nach Quito, der Präsident verhängte vorsorglich den Ausnahmezustand.
Während der Aufstieg zum Fuya Fuya nicht mehr als eine leichte Wanderung ist, hat die Besteigung des Imbabura am Folgetag durchaus hochalpinen Charakter. Die letzte Stunde zum Gipfel führt abschüssig über Felsen, man braucht hin und wieder die Hände.
Am Tag vor der Gipfelnacht geht es vom Cayambe über Quito nach Süden, eine Autofahrt von mehreren Stunden. Irgendwann kommt der mächtige Chimborazo endlich ins Bild. Stolz thront er über der kargen Ebene. Wilde Vikunjas grasen vor dem Gipfelaufbau, so als hätten sich die Tiere dort eigens für einen Landschaftsmaler postiert.
In der Nacht zeigt sich bald, dass die Besteigung des Chimborazo trotz Akklimatisierung und moderner Technik ein beschwerliches Unterfangen ist. Ab 5800 Metern wird die Besteigung zu einem zähen Ringen mit den eigenen Kräften.
Humboldts Mühen waren am Ende vergebens. Eine gewaltige Gletscherspalte versperrte den Weg und zwangt ihn zur Umkehr. Er kam etwa bis auf 5600 Meter. Erst 1880 erreichte der britische Alpinist Edward Whymper als erster Mensch überhaupt den Gipfel des Berges.
Bergführer Wily macht im eisigen Dunst den Vorgipfel des Chimborazo aus, den Ventimilla. Nach einer weiteren quälenden halben Stunde ist der Hauptgipfel erreicht. Atmen, trinken. Das Blut rauscht durch die Schläfen.
Man befindet sich an dem Ort auf der Welt, der am weitesten vom Erdmittelpunkt entfernt ist - und quasi am nächsten zur Sonne. Das liegt daran, dass der Durchmesser am Äquator größer ist als etwa am Standort des Mount Everest, dem höchsten Berg der Welt.
Humboldt selbst verortete die ästhetische Erfahrung in den „Ansichten der Kordilleren“ nicht auf dem Berg, sondern darunter - nicht die Aussicht sei erhebend, sondern die Ansicht des Berges. Beides erlebt zu haben, ist aber zweifellos die schönste Kombination.
Literatur:
Oliver Lubrich, Ottmar Ette: Alexander von Humboldt. Über einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen, Eichborn, 196 Seiten, 19,90 Euro, ISBN-13: 978-3-8218-0767-6