Warum wir einen Sündenbock brauchen
Psychologie: OB Sauerland muss als Verantwortlicher herhalten – obwohl vieles ungeklärt ist.
Münster. Er erhält Morddrohungen, wird beschimpft und attackiert: Nach der Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten steht ein Mann im Zentrum der Kritik: Adolf Sauerland. Obwohl die Schuldfrage ungeklärt ist, richten sich alle Emotionen fast ausschließlich gegen den Oberbürgermeister von Duisburg. Er ist der "Sündenbock" des Unglücks. Doch was ist das überhaupt?
Der Ursprung des Begriffs liegt in einem religiösen Ritual des Judentums. Beschrieben ist es im 3. Buch Mose. Am Feiertag Jom Kippur bekommt ein Ziegenbock vom Hohepriester durch Handauflegen symbolisch die Sünden des Volkes Israels auferlegt. Dann wird das Tier in die Wüste gejagt - um alle Schuld mit sich zu nehmen.
"Der Sündenbock ist also eigentlich unschuldig. Die Gemeinschaft bürdet ihm jedoch die Schuld auf, um sich moralisch zu reinigen", erklärt der Theologe Hans-Peter Großhans von der Universität Münster. Dieser Mechanismus sei auch bei der Schulddebatte um die Loveparade-Katastrophe zu beobachten. "Da wird ein Schuldiger gesucht, obwohl die Schuld gar nicht geklärt ist. Die Gesellschaft braucht aber ein Opfer, um selbst psychologisch entlastet zu werden."
Soziologe Frithjof Hager von der Freien Universität Berlin erklärt es so: "Nach einem Unglück muss irgendjemand verantwortlich sein. Das entspricht unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis." Doch in Duisburg war ein Großteil der Entscheidungen auf viele Menschen verteilt, die Verantwortlichkeit lässt sich daher nicht einem einzigen zurechnen. "Das passiert aber trotzdem. Weil wir nicht fähig sind, in Beziehungen zu denken, reduzieren wir die Verantwortung auf eine Person. Dadurch können wir das Problem lösen, und müssen uns nicht jeden Tag mit der Schuldfrage quälen."