Analyse Wie die 32 Anwälte den Loveparade-Prozess ausbremsen
Am vierten Verhandlungstag geht es immer noch nicht um die Sache. Gähnende Leere in dem zum Gericht umgebauten Kongresssaal.
Düsseldorf. Neun Zuhörer verlieren sich in dem zum Gericht umgebauten Kongresssaal der Düsseldorfer Messe. Dabei hätten 320 Menschen Platz, um dem Prozess zur Aufarbeitung der Loveparade-Katastrophe im Juli 2010 mit 21 Toten und mehr als 650 Verletzten beizuwohnen. Der Saal, für den an jedem der angesetzten 111 Verhandlungstage 14 000 Euro Miete fällig werden, ist deutlich unterbelegt.
Auch die Reihen der 60 Nebenkläger — Angehörige der Opfer oder beim Unglück Verletzte — sind gelichtet. Nur noch etwa 25 Anwälte, die deren Rechte wahrnehmen, sind da. Die Menschen, die ihre Hoffnung in diesen Strafprozess gesetzt hatten, tun wohl gut daran, sich nur von ihren rechtlichen Vertretern im Nachhinein schildern zu lassen, was hier passiert.
Auch am vierten Verhandlungstag kann das Gericht nicht zur Sache kommen, ist damit beschäftigt, Verfahrensattacken der 32 Verteidiger abzuwehren. Findige Juristen, die trickreich ihre Mandanten verteidigen — vier Mitarbeiter des Loveparade-Veranstalters Lopavent und sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg. Der Verdacht liegt nahe, dass das Verfahren in die Länge gezogen werden soll, damit es nicht vor Ende der Verjährungsfrist im Juli 2020 abgeschlossen ist.
Das prozessuale Schauspiel erinnert an faszinierende Aufnahmen von Tierfilmern, denen es gelang, nächtliche Attacken von Löwen auf einen unbesiegbar scheinenden Elefanten zu filmen. Wie sie angriffen, immer und immer wieder, bis das mächtige Tier am Ende wankte und zur Strecke gebracht war. An diese Angriffe kann sich erinnert fühlen, wer das Trommelfeuer der Verteidigeranträge an den ersten Verhandlungstagen verfolgt. Die Löwen kommen von allen Seiten, doch der Elefant, um im Bild zu bleiben, wankt nicht. Steht sicher. Noch. Dabei sieht sich der stets kontrolliert wirkende Vorsitzende Richter Mario Plein immer der Gefahr ausgesetzt, der Verteidigung durch eine fehlerhafte Bescheidung ihrer Anträge einen Revisionsgrund zu liefern.
Schon am ersten Verhandlungstag hatten die Verteidiger (erfolglos) zu verhindern versucht, dass überhaupt die Anklage verlesen wird. Es gibt Befangenheitsanträge gegen zwei Schöffen, weil auch deren Angehörige auf der Loveparade gewesen waren (ohne verletzt zu werden). In verschiedenen Versionen folgen so genannte Besetzungsrügen: die den Fall verhandelnde Kammer des Landgerichts Duisburg, so argumentieren die Verteidiger, sei gar nicht zuständig, weil das Oberlandesgericht Düsseldorf den Fall nicht eigenmächtig an eine bestimmte Kammer des Landgerichts hätte verweisen dürfen. Und mit den Ergänzungsrichtern soll etwas nicht stimmen.
Auch wird beantragt, die Akten des Landtags-Untersuchungsausschusses zur Kölner Silvesternacht hinzuzuziehen. Weil es da doch um Polizeiversagen gegangen sei und bei den Zeugenvernehmungen im Landtag immer wieder vom Loveparade-Unglück die Rede war. Von Verantwortlichkeit auch der Polizei — und damit nicht nur vom Verschulden der Veranstaltungsplaner. Die Verteidiger gehen sogar so weit, das Prozess-Aus wegen zu wenig konkretisierter Anklagevorwürfe zu verlangen.
Mehr als eine Stunde braucht Richter Mario Plein am Mittwoch, um die Anträge der letzten Tage zu bescheiden. Fast alle negativ. Ja, einige Akten aus dem Untersuchungsausschuss will auch er nun hinzuziehen. Bei jetzt schon knapp 50 000 Seiten Akten und mehreren Hundert Stunden Videomaterial kommt es darauf wohl auch nicht mehr an.
Nachdem der Richter alle Anträge abgearbeitet hat, meldet sich gleich wieder eine Verteidigerin zu Wort. Die Kamera zoomt auf sie und überträgt ihr Bild auf die Videoleinwände im Saal. Und ihre Worte, mit denen sie eine weitere Besetzungsrüge ankündigt. Für deren Ausarbeitung sie freilich ein paar Stunden Zeit brauche. Wenn es in Richter Plein in diesem Moment brodelt, dann kann er das gut verstecken. Nach einigem Hin und Her wird der Prozess vertagt.
Die Verteidiger haben die Interessen ihrer Mandanten im Auge. Und: sich in diesem so aufsehenerregenden Prozess zu profilieren. Prozessverschleppung, Verzögerungstaktik — der Verdacht, dass das Verfahren in die Länge gezogen werden soll, ist mit Händen zu greifen.
Skrupel muss ein Strafverteidiger nicht haben. Er nimmt schließlich an keinem Beliebtheitswettbewerb statt. Im „Handbuch des Strafverteidigers“ heißt es: „Verteidigung ist Kampf. Kampf um die Rechte des Beschuldigten . . .“ Kürzlich hat das Oberlandesgericht Koblenz im Zusammenhang mit einem überlangen Verfahren das Verfassungsgericht zitiert. Dieses erlaube nun mal dem Strafverteidiger ein Verhalten, „das von den anderen Verfahrensbeteiligten als stilwidrig, ungehörig oder als Verstoß gegen den guten Ton und das Takt- und Anstandsgefühl empfunden wird.“
Aber was macht das mit den anderen Prozessbeteiligten, den Menschen, die ihre Liebsten verloren haben? Die so viel Hoffnung in den ihnen sieben Jahre lang verweigerten Strafprozess gesetzt hatten? Thomas Feltes, Bochumer Rechtsprofessor und einer der Beistände der Nebenkläger, schreibt einen Blog, ein Internet-Tagebuch zu den Prozesstagen.
Als Kriminologe sind ihm die Phasen der „Viktimisierung“ geläufig. Der Phasen also, durch die das Opfer einer Straftat oder deren Angehörige gestoßen werden. Erst die primäre Viktimisierung, die Schädigung durch die Straftat. Dann die sekundäre Viktimisierung durch Fehlreaktionen des gesellschaftlichen Umfelds. Aber es gibt noch eine dritte Stufe, die Resignation des Opfers, den völligen Vertrauensverlust, die Thomas Feltes ins Spiel bringt, wenn er schreibt: „Wir bewegen uns haarscharf an der Grenze zur tertiären Viktimisierung der Hinterbliebenen. Liebe Verteidiger, macht euch dies bewusst und verhaltet euch entsprechend.“