Bundestagswahl 2017 Angela Merkel, die Momentpolitikerin
Die Kanzlerin ist im Wahlkampf unterwegs. Konzentriert und nimmermüde, immer im gleichen Takt. Ihr Vorsprung ist groß, aber man weiß ja nie. Beobachtungen in Münster.
Münster. Am Morgen eröffnet sie die Gamescom in Köln, am Abend wird sie in Bergisch-Gladbach auftreten, und jetzt, am Nachmittag, ist Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Münster. Wahlkampf, ein Termin jagt den nächsten, Merkel nimmt das, wie ein guter Fußballtrainer: Das nächste Spiel ist das schwerste, Konzentration auf den Moment. Und danach abhaken.
Gerade dudelt die Coverband noch einen Andrea-Berg-verdächtigen Schlager, die Sonne scheint, schon steht Merkel auf der Bühne, 5000 Menschen sind gekommen, sagt die Polizei. Merkel hat Armin Laschet im Schlepptau, auch NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann weicht nicht von ihrer Seite, aus dem Publikum winkt NRW-Landwirtschaftsministerin Christina Schulze Föcking. Laumann ist das westfälische Schwergewicht, nach einer Stunde wird er seiner Kanzlerin ein in Schokolade gehülltes Münsterland-Backwerk schenken. „Die Schokolade ist so schwarz, wie das Münsterland schwarz ist“, ruft Laumann, womit die gemütliche Runde auf dem Domplatz ganz passabel beschrieben ist.
Protestiert wird hier nur am Rande. Münster, das ist ein Heimspiel für Merkel und die CDU. Mindestens bei der älteren Bevölkerung jenseits der Studentenschaft. Und älter sind hier viele, die meisten von ihnen werden wohl auch zur Wahl gehen. Es lohnt sich also vermutlich, in Münster zu sein. Auch für Laschet, der zum Einstieg gleich mal an den Landesparteitag am 1. April dieses Jahres erinnert. In Münster. Damals, sagt der NRW-Ministerpräsident, hätten alle auf die CDU keinen Pfifferling gegeben, weil der Schulz-Zug alle zu überrollen drohte, aber dann, sagt Laschet, und dabei lächelt er das Laschet-Lächeln, „haben wir in Münster den Grundstein gelegt, dass es am 14. Mai geklappt hat“. Was in wenigen Wochen so alles passieren kann — dass Laschet damit indirekt das dunkle Szenario für die Amtsinhaberin gezeichnet hat, geschenkt.
Das Publikum jubelt, nichts trübt die Harmonie, auch weil Merkel über die Gabe verfügt, von Termin zu Termin über das bisweilen steinige Parkett der Tagespolitik direkt in die Wohnzimmer der Wähler zu marschieren. Tenor: Hallo, hier bin ich, ihr kennt mich, also bitte: wählt mich. Erst- und Zweitstimme CDU, so mache er das seit Jahren der Einfachheit halber, ruft Laumann, und das Publikum grölt.
Wenn die CDU in diesen Tagen trotz komfortablem Vorsprung ein Problem hat, dann diese Ungewissheit: Gehen die Stammwähler am 24. September zur Wahl? Und wie entscheiden sich die angeblich rund 40 Prozent Unentschlossenen? Merkel hat gerechnet: Wenn jeder Fünfte in einer Straße nicht wähle, käme man bei 340 000 Straßen in Deutschland auf 1,5 Millionen Wähler. Oder so ähnlich. Entscheidend ist die Botschaft: „Die können es ausmachen, wir brauchen wirklich jede Stimme“, ruft Merkel. Aber wofür eigentlich?
Es läuft ja so gut, die Einnahmen sprudeln, aber zu verteilen gebe es trotzdem nicht so wahnsinnig viel, findet sie. Generationengerechtigkeit heiße, auch weiter keine neuen Schulden zu machen. Außerdem müsse investiert und geforscht werden, damit „wir auch in zehn Jahren noch vorne sind und Qualität made in Germany anbieten können“, sagt sie. „In den nächsten Jahren werden die Weichen gestellt.“ Autos, Diesel, Digitalisierung, Pflege, Schulen, Landwirtschaft und Wohnungsnot in Städten wie Münster — alles wird sanft angerissen, konkreter wird es aber nur bei zwei zentralen Themen: Familie und Innere Sicherheit. In der Steuerpolitik wolle man den Freibetrag für Kinder dem der Erwachsenen angleichen. „Und wer keine Steuern zahlt, der bekommt mehr Kindergeld“, sagt Merkel. Es ist das vielleicht konkreteste Wahlversprechen. Viel weiter geht sie nicht.
Nicht, dass es nachher wieder heißt, sie habe Versprechen nicht eingehalten. Das hat ihr Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) ja nun gerade gestern erst vorgeworfen: Er nannte die Maut, die Wehrpflicht und die Laufzeiten von Atomkraftwerken als Beispiel. Und auch, dass zugunsten der geplanten Erhöhung des Rüstungsetats keine Sozialleistungen gekürzt würden, will Gabriel nicht glauben. Merkel verliert darüber hier in Münster kein Wort. Warum auch? Es fragt sie hier ja niemand danach. Selbstbestimmter Wahlkampf geht genau: so. Schon bei ihren Wiederwahlen 2009 und 2013 hat das ja gut funktioniert. Nicht über alles, was nicht gut läuft, muss man reden, solange es kaum einer merkt. Und sich die anderen selbst zerlegen. Das funktioniert.
Der Beweis steht gerade auf einer Bühne in Münster. Sie spricht über Gefängnisstrafen für Einbrecher, bessere internationale Zusammenarbeit, sie mahnt zu mehr Europa und dafür, Fluchtursachen mit Vorsorge zu bekämpfen. Wie genau? Das sei nachzulesen im 75-seitigen Wahlprogamm, hat sie zu Beginn ihrer Rede gesagt. Und vermutet, dass das noch keiner getan hat. Wahrscheinlich ein Volltreffer. Auf der Gamescom habe sie am Morgen gelernt, dass sie mehr für die Spiele-Entwickler tun müsse, in Europa gebe es viele Länder, die ihre Entwickler mehr unterstützten als die Politiker in Deutschland. „Wieder eine Aufgabe mehr“, zischt Merkel und lächelt. Das Publikum lacht mit ihr. Mit Computerspielen muss man den Leuten hier auf dem Domplatz nun wirklich nicht kommen. Aber noch eine Aufgabe mehr — die sehen hier alle bei Angela Merkel ziemlich gut aufgehoben.