landtagswahl NRW Die Grünen entdecken ihre Leidenschaft neu
Kämpferische Rede von Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann beim Landesparteirat in Bochum.
Bochum. Die Hochrechnungen aus Schleswig-Holstein sind noch sieben Stunden entfernt, als der dortige grüne Umweltminister Robert Habeck per Videobotschaft zum moralischen Aufbau der NRW-Grünen eingeblendet wird: "Wir sind die Partei der Moderne geworden gegenüber den Verächtern der Moderne. Die Zeit der Grünen ist nicht vorbei. Die Zeit der Grünen kommt erst." Der Landesparteirat im Bochumer Jahrhunderthaus hört die Botschaft eine Woche vor der NRW-Wahl gerne. Gegen die mageren Prognosen setzen die 80 Delegierten auf die Wiederentdeckung ihrer grünen Leidenschaft - allen voran Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann mit einer kämpferischen Rede.
Die Schulministerin rührt an der grünen Seele. "Wir können auch Gegenwind." Man werde sich nicht wegschieben lassen von einer humanitären Flüchtlingspolitik. "Unsere Leidenschaft ist noch mal stärker gefordert." Die Grünen seien auch die einzige Partei, die den Schutz der ökologischen Lebensgrundlagen mit einer ökonomischen Innovationsstrategie verbinde. Das Erreichen der Klimaschutzziele sei nur mit einem Ausstieg aus der Braunkohleförderung möglich. Den Elitevorstellungen der FDP schleudert sie entgegen: "Wir wollen, dass alle Schulen in NRW Talentschulen werden." Sie verteidigt inklusive Schulen als "Schutz vor Rassismus und Menschenfeindlichkeit". Sie positioniert die Grünen als Partei des gesellschaftlichen Zusammenhalts gegen eine AfD, die spalte. Eine Seelenmassage mit Standing Ovations als Dank.
Es scheint, als führten die schwachen Umfrageergebnisse und das Infragestellen der Notwendigkeit ihrer Politik bei den Grünen zu einer Rückbesinnung auf ihre Wurzeln in den Bürgerinitiativen und Protestbewegungen, zu jenem idealismusgetränkten "Jetzt erst recht"-Engagement gegen Widerstände - auch wenn Habeck den Seinen bescheinigt, sich von einer Protest- zu einer Gesellschaftspartei entwickelt zu haben.
NRW-Vorsitzender Sven Lehmann hält SPD und CDU vor, sich von der AfD treiben zu lassen. Und er umreißt die fünf Gründe, die auch der Antrag des Parteivorstands als Kernfelder grüner Identität definiert: Umweltschutz, moderne Mobilität, Chancengleichheit, soziale Integration und eine offene Gesellschaft. Der Antrag zur Unterstützung der Zweitstimmen-Kampagne findet schließlich einstimmige Zustimmung - inklusive der Absage an eine Koalition mit CDU und FDP sowie eines klaren Bekenntnisses zu Rot-Grün.
Umweltminister Johannes Remmel bietet fast so etwas wie einen Abriss durch die grüne (Leidens-)Geschichte: "Erst wird man ignoriert. Dann wird man ausgelacht. Dann wird man bekämpft. Und dann wird man umarmt." Seine Partei kämpft sei dem Diffundieren grüner Inhalte in andere Parteiprogramme um die Bedeutung des Originals. Und Remmel nimmt sich dabei vor allem FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner vor. Er wiederholt sein "Er oder wir". Die FDP stehe weiter für "Privat vor Staat": "Heute heißt das Entfesselung."
Britta Haßelmann, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, verweist auf bundesweit 62 000 Mitglieder und "eine Eintrittswelle, wie sie die Grünen noch nicht gesehen haben". Arndt Klocke, verkehrspolitischer Sprecher der NRW-Landtagsfraktion, beschwört den "grünen kämpferischen Geist". Verzagt gehen die Grünen jedenfalls nicht in die letzte Wahlkampfwoche. Sie halten an Rot-Grün fest. Aber Bochum macht deutlich: Sie wären auch eine selbstbewusste Oppositionspartei.