Borussias Kramer läuft die Lücke zu
Der Gladbacher Sechser hat laut Bundestrainer Joachim Löw gute Chancen auf die WM.
Mönchengladbach. Christoph Kramer liegt auf seinem Bett im Teamhotel der deutschen Nationalmannschaft in St. Leonhard, zückt den Kugelschreiber, schlägt sein kleines schwarzes Buch auf und schreibt: „Löw sagt, ich hätte gute Chancen auf Brasilien. Der Wahnsinn!“
So oder so ähnlich könnte es sich am Montagabend im DFB-Trainingslager in Südtirol abgespielt haben. Der 23-Jährige, eigentlich nur als Sparringspartner für die Arrivierten nominiert, ist plötzlich ein WM-Hoffnungsträger. Der Sechser — von Bayer Leverkusen bis 2015 an Borussia Mönchengladbach ausgeliehen — sah sich selbst nach seiner Berufung in den vorläufigen Kader als Streichkandidat. Aber er hat beim Bundestrainer einen „absolut positiven Eindruck“ hinterlassen.
In Tagen, an denen Fußball-Deutschland über Patellasehnen (Schweinsteiger), Kreuzbänder (Khedira) und Kapseleinrisse (Lahm) grübelt, macht der Solinger das, was er am besten kann: Laufen. „Marathonmann“ haben sie ihn in einem DFB-Imagefilmchen getauft. Borussia-Trainer Lucien Favre nannte ihn jüngst „eine Maschine“. 13 Kilometer rennt Kramer im Durchschnitt in 90 Minuten. Liga-Rekord. Und dabei habe Kramer sogar noch gezeigt, „dass er Fußball spielen kann“, so Favre.
Kramer hat gerade erst seine erste Bundesliga-Saison gespielt und muss laut seinem Vereinstrainer noch „einiges lernen“. Dass er manchmal schlicht zu viel läuft, weiß er selbst. Aber es scheint, als beherrsche ihn ein innerer Drang, sobald er den Rasen betritt.
„Ich probiere einfach immer, überall auf dem Platz zu sein und zu helfen“, sagt der Blondschopf. Er läuft die Lücken im Spiel zu. „Ich kann über den Punkt, an dem es wehtut, einfach hinauslaufen“, sagt Kramer. Aber nach 30 Liegestützen noch eine 31. machen? Da würde er lieber noch ein paar Meilen laufen.
Einer, der rennt und rackert und keine Schmerzen kennt. Das erinnert viele, die den DFB-Tross begleiten, an die letzten deutschen Mannschaften, die große Titel gewonnen haben. An Guido Buchwald, der es 1990 schaffte, Diego Maradona die Lust am Spiel zu nehmen. An Dieter Eilts und Matthias Sammer, die 1996 bei der EM in England Kilometergeld hätten bekommen müssen.
Kramer, der beim BV Gräfrath zum ersten Mal gegen den Ball trat, würde es im Traum nicht einfallen, sich selbst mit diesen Recken zu vergleichen. Aber er sagt auch: „Ich habe keine Angst vor irgendwas. Nur Respekt.“
Kramer wirkt bei der Nationalmannschaft wie ein Kind, das zum ersten Mal mit den Großen ins Phantasialand darf. Er sprüht vor Tatendrang, die Augen weit aufgerissen, weil das alles so unglaublich ist. Ein Gefühl, das er scheinbar kennt. Denn sein Glück, Fußballprofi zu sein, hält er schon seit sechs Jahren in dem kleinen schwarzen Buch fest. Als müsse er sich versichern, dass das wirklich alles wahr ist. Über 300 Spiele, große Gefühle, kleine Anekdoten.
Könnte sein, dass er bald in Campo Bahia im Bett liegt, sein Buch aufschlägt und schreibt: „Mein erstes WM-Spiel. Der Oberwahnsinn!“