Borussia Mönchengladbachs erste Meisterschaft Kleff: „Ein Tag, den man nie vergisst“

Mönchengladbach · Am 30. April 1970 um 21.48 Uhr verkünden die Glocken von St. Elisabeth und St. Maria Rosenkranz den Coup – vor 50 Jahren wird Borussia Mönchengladbach zum ersten Mal deutscher Fußball-Meister.

 Die Mannschaft von Trainer Hennes Weisweiler feiert die erste Meisterschaft nach dem entscheidenden Sieg über den HSV in der Kabine. 

Die Mannschaft von Trainer Hennes Weisweiler feiert die erste Meisterschaft nach dem entscheidenden Sieg über den HSV in der Kabine. 

Foto: Horstmueller/HORSTMUELLER GmbH

Es reicht, in ihre Gesichter zu schauen, um zu verstehen, wie aufreibend und aufregend die letzten Minuten auf dem Bökelberg gewesen sein müssen. Das Foto spricht Bände. Geschossen in der engen Mannschaftskabine am späten Abend des 30. April 1970. Noch ist der Ballast nicht abgefallen, die Anspannung bei den meisten zu groß, um zur Balance zu finden und der Freude ungehemmt ihren Lauf zu lassen. Jeder ist in dem kleinen Raum noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt und drückt unterschiedlich seine Gefühle aus.

Günter Netzer wirkt ermattet, in sich gekehrt, Berti Vogts erschöpft, ein paar Spieler lächeln, sind still-vergnügt oder ergriffen, andere blicken gedankenverloren ins Leere. Keine Spur von überschäumender Begeisterung. Nur einer geht mit seiner ganzen emotionalen Wucht aus sich heraus. Seht her, das ist die Schale, scheint er heraus zu posaunen. Es ist der Trainer von Borussia Mönchengladbach: Hennes Weisweiler ist am Ziel seiner Träume. Mit 50 schenkt er sich und dem VfL Borussia von 1900, dem aufstrebenden Fußball-Klub aus Eicken, die erste Deutsche Meisterschaft.

Am vorletzten Spieltag ist
die Meisterschaft perfekt

Es ist 21.48 Uhr, als nach dem 4:3-Zittersieg gegen den Bundesliga-Konkurrenten Hamburger SV die mächtigen Glocken von St. Elisabeth und St. Maria Rosenkranz läuten und den bis dato größten Coup in der Vereinsgeschichte von Borussia Mönchengladbach verkünden. Vorhang auf: Der Tanz in den Mai kann beginnen. Am vorletzten Spieltag ist der Fohlen-Elf der Titelgewinn nicht mehr zu nehmen.

 Trainer Hennes Weisweiler reckt beim Autocorso durch die Gladbacher Innenstadt die Meisterschale hoch, neben ihm Günter Netzer und Berti Vogts.

Trainer Hennes Weisweiler reckt beim Autocorso durch die Gladbacher Innenstadt die Meisterschale hoch, neben ihm Günter Netzer und Berti Vogts.

Foto: Horstmueller/HORSTM†LLER GmbH

Unsere Zeitung hat drei Meisterspieler von 1970 via Telefon zu ihren Eindrücken von damals befragt. Sie lassen die Spielzeit noch einmal Revue passieren: Torwart Wolfgang Kleff (73) sowie die Offensivspieler Horst Köppel (71) und Herbert Laumen (76). Der Autor selbst fieberte im Stadion mit.

Gladbachs Torwart-Legende Wolfgang Kleff sagt: „Es war ein Tag, den man nie vergisst. Kurz nach der Pause stand es 4:0. Ich dachte, das ist das Meisterstück. Jetzt kann die Party beginnen.“ So oder ähnlich wird es auch den 35 000 Zuschauern auf dem Bökelberg ergangen sein, die nach dem vierten Treffer durch Hartwig Bleidick die Freudengesänge anstimmten.

Aber dann erholte sich der Gast von der Waterkant, 4:1 (55.), 4:2 (69.), 4:3 (85.). „Die letzten Minuten gingen an die Nerven, es war nur noch Hektik auf dem Platz. Wir waren physisch und psychisch am Ende, und im Stadion wurde es still“, erzählt Kleff. „Ich sehe Hennes Weisweiler noch vor mir, wie er, fast auf dem Spielfeld stehend, wild gestikulierte und versuchte, auf die Mannschaft einzuwirken. ,Zurück, zurück’, rief er immer wieder.“ Nach endlos langen Schlussminuten war es dann geschafft, die Meisterschaft perfekt, fünf Jahre nach dem Aufstieg in die Fußball-Bundesliga. Kleff, der insgesamt 321 Mal das Trikot der Gladbacher in der Bundesliga überstreifte, sagt: „Es war ein großer Moment.“

Wenige Minuten nach dem Abpfiff bahnten sich die Borussen einen Weg durch die Menschenmassen, um auf der Haupttribüne die Meisterschale von DFB-Präsident Hermann Gösmann in Empfang zu nehmen und bald darauf in der Kabine in sich zu versinken. Erst spät brach das Team zum offiziellen Teil der Feierlichkeiten auf. Das Festbankett im nahe gelegenen Parkhotel am Bunten Garten fand zunächst ohne Spielerfrauen statt. Es herrschten seiner Zeit strenge Rituale beim Deutschen Fußball-Bund. „Typisch DFB. Aber zu später Stunde kamen dann doch unsere Frauen dazu, und wir haben bis in die Puppen gefeiert“, sagt Herbert Laumen. In der Bundesliga der Sechziger und Siebziger Jahre gehörte Laumen zu den gefürchtetsten Torjägern. In 186 Spielen erzielte er für Gladbach 97 Tore. Doch zu Beginn der ersten Meistersaison lief es für den seit Jahren in Wegberg beheimateten Offensivspieler noch nicht rund.

„Wir starteten mit einer Niederlage auf Schalke, waren nach acht Spieltagen nur Siebter“, erinnert sich Laumen. Der Weg der Borussia war tatsächlich zunächst ein wenig holprig. „Und in der Endphase der Saison nach drei 0:1-Niederlagen in Folge herrschte sogar großes Nervenflattern“, so Laumen. „Doch wir wollten nach zwei dritten Plätzen 1968 und 1969 endlich Meister werden.“

Gladbach hatte im Sommer 1969 gezielt aufgerüstet. Auch auf Drängen des großen Mittelfeldregisseurs Günter Netzer, dem „King“ vom Bökelberg. Luggi Müller und Klaus Dieter Sieloff, zwei Routiniers (beide 27) vom Club in Nürnberg und vom VfB Stuttgart, verstärkten die Abwehr.

Borussia Mönchengladbachs Hurrastil dieser Zeit, die filigrane Leichtigkeit ihres sehenswerten Spiels, das in erster Linie nach vorne orientiert war, litt keineswegs unter dem Zugewinn der neuen Abwehrrecken. „Luggi und Klaus-Dieter halfen uns enorm und waren entscheidende Figuren auf dem Weg zur ersten Meisterschaft“, erzählt Horst Köppel. „Die Abwehr stand sicher, aber die Offensive blieb unser Markenzeichen.“ Dazu trug nicht zuletzt auch die Verpflichtung des Dänen Ulrik Le Fevre bei, einem eleganten Techniker und Schützen entscheidender Tore.

5:0-Triumph am 50. Geburtstag von Hennes Weisweiler

Die Gladbach-Anhänger schwärmten von ihrer, der niederrheinischen Borussia, von den ungestümen, wilden Fohlen. Köppel war einer dieser hochgeschätzten Spezies. „Unser schnelles, direktes, dynamisches Spiel damals war eine Augenweide. Mit herrlichen Toren als Krönung.“ 71 Treffer waren es am Ende der Saison 1969/1970. Nur der FC Bayern und der 1. FC Köln trafen in dieser Spielzeit häufiger.

Unvergessen, so Köppel, sei der 5:0-Triumph gegen Hannover 96 gewesen. „Da spielten wir die Gäste an die Wand. Und das Ergebnis passte zum 50. Geburtstag unseres Trainers an genau diesem Tag. Der Chef war ein ganz Großer, und wir glaubten an ihn.“

Bei der Geburtstagsparty im „Casino“ an der Hermannstraße in Mönchengladbach verlängerte Borussia den Vertrag mit „Hennes“ um weitere zwei Jahre – per Handschlag, versteht sich. „An diesem 5. Dezember 1969 haben wir uns geschworen“, so Köppel weiter, „dass dies unsere Saison wird und wir den Titel mit aller Macht holen wollen. Für Hennes Weisweiler, für uns, für den Verein, für die Fans.“ Köppel, der Mann mit dem lichten Haar, bestritt für Gladbach 184 Ligaspiele (39 Tore), war DFB-Trainer und auch im Ausland als Spieler und Coach erfolgreich: in Kanada und Japan – Stationen, die ihn auch geprägt haben. Später kehrte der gebürtige Stuttgarter noch einmal zum VfL als Trainer zurück und wurde in Gladbach heimisch.

Wolfgang Kleff, Horst Köppel und Herbert Laumen prägten neben zahlreichen anderen die große Ära von Borussia Mönchengladbach ab 1965 und insbesondere in den Siebzigern auf ihre Weise. Alle Drei sind mit der Borussia der Neuzeit hochzufrieden und aufmerksame Beobachter des Liga-Geschehens. „Der Verein ist vorbildlich geführt, und die Mannschaft von Marco Rose spielt einen attraktiven Fußball“, sagt Horst Köppel und hofft, dass die Fohlen anno 2020, fast auf den Tag genau 50 Jahre nach der ersten deutschen Meisterschaft, in absehbarer Zeit wieder ihrem Spiel ungehemmt frönen dürfen und ihre Ziele erreichen werden.