EM-Tagebuch Einwurf - Markus Merk zu den bisherigen Schiedsrichterleistungen
Ex-Profi-Schiedsrichter Markus Merk war nie Freund der Torrichter.
Mit den Schiedsrichterleistungen bei dieser EM kann man bis dato absolut zufrieden sein. Kein Spielleiter hat sich durch krasse Fehlentscheidungen bereits ins Abseits gepfiffen — und bei der strittigsten Situation des Turniers bisher steht nicht der Spielleiter, sondern der meines Erachtens sowieso überflüssige Torrichter im Fokus.
Es war der übertriebene — und daher strafbare — Ellenbogeneinsatz des Slowaken Martin Skrtel am Samstag im eigenen Strafraum gegen den Waliser Jonathan Williams. Schiedsrichter Svein Oddvar Moen aus Norwegen entschied auf Abstoß, obwohl es hätte Elfmeter geben müssen. Wer die Zeitlupe der Szene im Kopf hat, sieht noch, wie sich der Torrichter im Hintergrund vor den heranrauschenden Fußballern per Sprung in Sicherheit bringt.
Die Szene illustriert das Problem sehr gut. Viele Fehlentscheidungen — auch von Linienrichtern bei der Frage, in welche Richtung ein Einwurf nach einem Pressschlag gehen soll — passieren, wenn der Entscheider nah am Geschehen steht, nur zwei, drei Meter entfernt. Dann fehlt ihm das Blickfeld für die Gesamtsituation, die Übersicht über alle Bewegungsabläufe. Wobei aber die Tatsache, dass sich der Torrichter ein wenig früher hätte bewegen müssen, hier nicht einmal der entscheidende Punkt ist.
Das Hauptproblem sind latente Abstimmungsschwierigkeiten an der Schnittstelle zwischen Referee und Torrichter. Die passieren meist, wie hier, abseits der Schiedsrichter-Diagonalen in jenen Ecken des Feldes, wo der Torrichter steht. Hier verlässt sich der Schiedsrichter oft auf den Torrichter: Klar, der steht ja näher dran, sollte die Dinge besser sehen. Der Torrichter aber, der 90 Minuten lang kaum im Spiel ist, soll dann über Elfmeter ja oder nein entscheiden? Plötzlich die wichtigste Entscheidung überhaupt treffen und eventuell seinen Hauptschiedsrichter überstimmen? Bestehen leichte Zweifel, passiert das leider oftmals nicht. Die Torrichter hat Michel Platini vor zehn Jahren im Alleingang eingeführt. Ich war nie ein Freund von ihnen und glaube, dass wir sie spätestens mit der Einführung der Torlinientechnik nicht mehr brauchen — und kann mir vorstellen, dass sie in den nächsten Jahren wieder abgeschafft werden, wenn über Dinge wie den Videobeweis ernsthaft nachgedacht wird.
Ansonsten bin ich durchaus überrascht von den guten Leistungen auch jener Referees, die bis dato eher selten auf absolutem Topniveau gepfiffen haben. Wie der Rumäne Ovidiu Alin Hategan, den ich gar nicht auf dem Zettel hatte, bevor er Polen gegen Nordirland souverän leitete, wie auch Moen trotz der Sache mit dem Torrrichter. Nur im Detail merken langjährige Beobachter wie ich, dass jenen Referees noch ein wenig Routine in den Abläufen fehlt: Etwa wenn sie bei aufkommender Hektik die Dinge beruhigen sollen. Aber das sind wirklich Kleinigkeiten.
Die Schiedsrichter versuchen generell, die Spiele bestmöglich laufen zu lassen. Nicht als Reglementierer aufzutreten, sondern den Fluss zu erhalten. Da ist die klare Handschrift von Schiedsrichter-Chef Pierluigi Collina zu erkennen. Einige sagen, dass zu viel laufen gelassen wird — ich finde das grundsätzlich in Ordnung, zucke aber ab und an zusammen, wenn in der ersten halben Stunde klar tatbezogene Verwarnungen — etwa bei Fouls mit offener Sohle — nicht ausgesprochen werden. Während später in der Partie weniger schwere Vergehen mit Gelb sanktioniert werden. Das geht so lange gut, wie kein Superstar eine Verletzung davon trägt — man stelle sich den Aufschrei vor, wenn etwa Cristiano Ronaldo ausscheidet durch ein Foul, das bestraft werden müsste, aber keine Karte gezogen wird. Wenn es jetzt ab dem 2. Spieltag für die ersten Teams ums Überleben geht und die Spiele daher naturgemäß härter und intensiver werden, müssen die Referees aufpassen, dass kein Fußballer eine großzügige Linie ausnutzt, um zu Beginn der Spiele über unsaubere Methoden den Gegner zu schwächen oder sich Respekt zu verschaffen.
Auch unser Schiedsrichter Felix Brych ist hier nun gefordert: Seine Ansetzung für die Partie Wales gegen England heute ist sicher eine Herausforderung, aber eine dankbare: Zwei britische Teams, die mit offenem Visier spielen — und wenn einer fällt, wird er nicht lamentierend liegenbleiben, sondern sich kurz schütteln und dann weitermachen. Auf diese Partie zum Einstieg kann sich Brych wirklich freuen.