Diskussion: Anlaufverkürzung als taktisches Mittel
Oberstdorf (dpa) - Die Windregel ist für viele Fans immer noch ein Buch mit sieben Siegeln, da sorgt eine weitere Änderung bereits für neue Verwirrung bei den Zuschauern und Unsicherheit im Springerlager.
Seit Saisonbeginn dürfen die Trainer den Schanzenanlauf ihrer Schützlinge freiwillig um eine Luke verkürzen - und nutzen dies bisher ausschließlich als taktisches Mittel im Kampf um den Sieg.
„Gedacht war die Regel zur Erhöhung der Sicherheit, aber es ist auch eine interessante taktische Sache. Der Trainer geht allerdings ein hohes Risiko ein, wenn er es taktisch einsetzt“, erklärte FIS-Renndirektor Walter Hofer in einem Gespräch der Nachrichtenagentur dpa.
Zweimal nutzte der Österreicher Andreas Kofler in diesem Winter die Möglichkeit zur Anlaufverkürzung - und gewann auch dank der damit verbundenen Bonuspunkte sowohl in Sotschi als auch in Engelberg. „Man setzt es nur ein, wenn man weiß, der Athlet hat das Vertrauen, auch bei verkürztem Anlauf weit zu springen“, erläuterte Austria-Coach Alexander Pointner die Hintergründe. In der Regel sei das im Vorfeld abgesprochen, betont Pointner: „Es muss ein riesengroßes gegenseitiges Vertrauen da sein.“
Das besteht auch zwischen den deutschen Springern und Bundestrainer Werner Schuster. Dennoch lehnt Tournee-Mitfavorit Severin Freund den taktischen Einsatz der neuen Regel ab. „Grundsätzlich würde ich für mich nicht auf die Idee kommen zu sagen, ich gehe jetzt eine Luke runter. Es bringt ja wirklich nur etwas, wenn man trotzdem weit springt und vielleicht die minimal bessere Landung machen kann“, sagte Freund.
Der Bayer befürchtet allerdings nicht, „dass es langfristig so sein wird, dass alle zwei Sprünge der Anlauf verändert wird, weil man sich davon einen Vorteil erhofft“. Auch Hofer hat bei den bisherigen Weltcups einen eher zurückhaltenden Umgang mit der Regel beobachtet. „Einige haben schon gezuckt, dann aber die Finger davon gelassen.“
Den Vorwurf, das Skispringen werde für den Zuschauer dadurch noch unübersichtlicher und schwerer zu begreifen, weist er zurück. „Es ist legitim, auf ein bisschen Transparenz zu verzichten, wenn wir dadurch ein paar Prozentpunkte Sicherheit gewinnen“, sagte Hofer. Denn eigentlich solle den Trainern die Möglichkeit gegeben werden, ihre Springer bei extremem Aufwind vor zu weiten Flügen zu schützen.
Unterstützung erhält der FIS-Renndirektor von Freund. „Wenn der Wind wirklich mal dreht, dann ist der Trainer derjenige, der am ehesten beurteilen kann, ob es in den gefährlichen Bereich geht oder nicht. Deshalb sehe ich das als nützliche Neuerung“, stellte der 24-Jährige fest.
Vielleicht wird der imaginäre rote Knopf, der eigentlich ein Touchscreen ist, aber auch zum Zünglein an der Waage im Kampf um den Gesamtsieg bei der Vierschanzentournee. Pointner will dieses Szenario zumindest nicht ausschließen: „Das wird sich zeigen. Jede Tournee schreibt ihre eigene Geschichte.“