Vierschanzentournee Simon Ammann: Der besondere Triumph eines Besessenen
Skispringer Simon Ammann ist ein Jahr nach seinem schweren Sturz in Bischofshofen wieder bei der Tournee dabei.
Oberstdorf. Es klingt ein wenig verrückt. Aber irgendwann kommt die Zeit, da passt es. Es ist Oktober. Er ist allein — und um ihn herum ist alles total friedlich. Simon Ammann ist zurückgekehrt an jene Stelle, wo er vor den Augen seiner Ehefrau Yana, dem damals drei Monate alten Sohne Théodore und Tausenden Fans bewusstlos im Schnee gelegen hat. Blutspuren als Beleg für einen Horrorsturz. In Bischofshofen, der Traditionsstätte für das Finale der Vierschanzentournee. Am Dreikönigstag. „Ja, ich habe triumphiert“, sagt Simon Ammann. „Es war einfach Weltklasse.“
Was für Worte! Fast ein Jahr danach. Bewusst ausgesprochen. Zum Zeichen, dass das Erlebte mental verarbeitet ist — wenn die Erinnerungen überhaupt jemals aus dem Kopf des besten Schweizer Skispringers zu treiben sind. Simon Ammann mag nicht darüber reden, wie lange er nach seinem Flug auf 136 Meter und der verkorksten Landung ohne Bewusstsein gewesen ist. Nur so viel: Der Kopf und der Körper sind danach im Ausnahmezustand. Schwere Gehirnerschütterung. Am geschwollenen Gesicht löst sich die Haut, die Prellungen schmerzen höllisch. Kopfweh und viel Schmerzmittel. Auch das Tageslicht macht Mühe. Ammann ist kaum in der Lage zu sprechen, beim Sturz hat er sich voll auf die Zunge gebissen. Er sagt: „Irgendwann zeige ich mal, wie ich im Spital ausgesehen habe. Als ob Walujew zugeschlagen hätte. Oder Mike Tyson.“
Jetzt, wenige Tage vor dem Start der 64. Vierschanzentournee, ist das kein Thema für den viermaligen Olympiasieger — 2002 in Salt Lake City und 2010 in Vancouver gewinnt er jeweils Gold auf der Normal- und auf der Großschanze. Es zählt sein Projekt: Weil der 34-Jährige wegen zahlloser wackliger Landungen und teils entscheidenden Punktabzügen das Vertrauen in sein linkes Bein verliert, stellt er in der Vorbereitung auf die Saison um, landet nun mit rechts. Wie einst, ehe er sich 1998 bei einem Unfall mit Inlineskates das Innenband gerissen hatte. Eine Herausforderung — nicht nur für einen Sommer. „Eine der größten in meiner Karriere“, sagt Ammann. „Anfangs ist sie schwieriger gewesen, als an die Weltspitze zu kommen.“ Doch es reizt ihn. Jeden Tag aufs Neue. Weil diese Entwicklung alles von ihm fordert, den Vollprofi in ihm verlangt. Im Mai 2015 entscheidet sich Simon Ammann weiterzumachen. Wie schon 2014 nach den enttäuschend verlaufenen Spielen in Sotschi. Aller Schwierigkeiten und Unsicherheiten zum Trotz.
Ammanns Fazit nach der Generalprobe in Engelberg: „Eigentlich bin ich nicht viel weiter.“ Oft sind die äußeren Bedingungen im Training schwierig. Trotzdem nimmt der Toggenburger aus jedem Sprung etwas mit. Trotzdem bleibt das Vorhaben enorm anspruchsvoll. Wissend, einen Weg zurück gibt es nicht. Die Bilder von Bischofshofen sind noch im Kopf präsent. Simon Ammanns Erwartungen für seine 15. Tournee? Bitte eine leichtere Frage. „Es gibt im Moment so viele gute Springer.“ Das gesamte norwegische Team, den deutschen Weltmeister Severin Freund, den Slowenen Peter Prevc und die Österreicher, deren Form ansteigt. „Ich bin hintendran. Und es ist nicht realistisch, dass ich ohne Training alle überhole“, sagt Ammann. Der versierte Flieger mit der Privatpiloten-Lizenz ist ein Phänomen, freut sich dennoch auf den ersten Höhepunkt der Saison. Weil er sich in seiner Ausgangslage gar nicht so unwohl fühlt. Und auch aus dieser Situation etwas machen will. Einen unbeschwerteren Zugang zur Vierschanzentournee hat der Schweizer nie gehabt — und das, wo er bis auf diese Traditionsveranstaltung schon alles in seiner Szene gewonnen hat.
Am 4. Januar kehrt Simon Ammann erneut dorthin zurück. Mit jedem Kilometer kommen auch die ständigen Fragen nach dem Sturz näher. Alle denken, er sei das erste Mal wieder da. Doch der wahre Triumph liegt schon hinter dem Skiflug-Weltmeister von 2010. Die Spur ist geputzt, nach allem geschaut, ehe er da steht. Erinnerungen. „Irgendwann musste ich den ersten Sprung machen. Dann machst du, was du als Skispringer machen musst: oben loslassen. Es hat wirklich geknistert“, sagt Simon Ammann. Ein intensives Erlebnis.
Dieser 1,71 Meter leichte Mann ist beileibe nicht stolz, dass es zu diesem Sturz gekommen ist. „Aber ich würde den Sprung im Oktober schon als Triumph bezeichnen. Über mich. Über die Schanze. Wenn man weiterkommen will, muss man solche Situationen überwinden“, sagt der Weltmeister von 2007. Leichter macht es die Saison für Simon Ammann nicht. Er wird in den nächsten Tagen noch häufig erklären müssen, was in ihm vorgeht. Einigen hat er seine Gedanken schon klargemacht. Es bleibt die Hoffnung, dass es somit einige Fragen weniger geben wird. „Das ist extrem wichtig“, sagt Ammann.
Der Hobbypilot hebt weiter ab — auf der Schanze und vom Rollfeld. Weil es für ihn nichts Faszinierenderes gibt, als den Boden unter den Füßen zu verlieren. Selbst nach seinem Coup von Salt Lake City, als der Bauernbub Simon Ammann mit 20 plötzlich zum Superstar wird, gibt er nicht den Glamourtypen, obwohl er in der Latenight-Show von David Letterman sitzt. „Manchmal sagen Menschen zu mir: Weißt du noch, damals...? Aber ich weiß einfach nichts mehr“, sagt Ammann. Aus dem Loch, in das er danach fällt, danach rappelt er sich empor. Wie auch nach Vancouver.
Vom Sprung bis zur Landung in Bischofshofen hat der Schweizer nichts vergessen: „Man sagt, je kleiner der Erinnerungsverlust, desto kleiner der Schaden im Hirn.“ Er erinnert sich auch, dass ihm Sanitäter die Skibrille abnehmen. Der Rest ist ein Prozess, der noch immer anhält. Für den Skisprung-Besessenen Simon Ammann bleibt es eine spannende Geschichte. „Viele Leute, die mich schon seit Jahren verfolgen, fragen sich sicher, warum ich mir das antue. Aber ja, Skispringen ist schon etwas Besonderes.“