Analyse: Schuldenabbau wichtiger als Steuergeschenke

Frankfurt/Main (dpa) - Die Wirtschaft brummt und bringt immer mehr Menschen in Lohn und Brot. Das entlastet den Staatshaushalt, die Einnahmen sprudeln stärker als erwartet. Schon verspricht die Regierung Steuersenkungen im Wahljahr.

Doch Ökonomen warnen: Der Schuldenabbau geht vor.

Das neue deutsche Wirtschaftswunder spült reichlich Geld in die öffentlichen Kassen - viel mehr, als erwartet. Schon sieht die Bundesregierung „Handlungsspielräume“, um im Wahljahr 2013 Steuern und Sozialabgaben zu senken. Das Argument von FDP und Union: Damit könnten Konsum und Investitionen angekurbelt werden.

Doch die Zeiten, in denen Steuersenkungspläne Jubelstürme im Volk auslösten, scheinen vorbei. Zu eindrücklich führt die Schuldenkrise in Griechenland vor Augen, dass Staaten nicht endlos neue Schulden anhäufen können. Ökonomen wie Steuerexperte Clemens Fuest von der Universität Oxford wettern: „Wir sind von Überschüssen noch weit entfernt, trotzdem reden wir schon wieder über Steuersenkungen. Diese Politik hat zu dem Schuldenberg geführt, den wir heute haben.“

Tatsächlich rechnet auch der Bund weder in diesem noch im nächsten Jahr mit einem ausgeglichenen Haushalt, geschweige denn mit Überschüssen. Nach Berechnungen des Finanzministeriums wird die Neuverschuldung 2012 mehr als doppelt so hoch ausfallen wie 2008. Und die Milliarden-Hilfen für Griechenland und andere klamme Euroländer reißen noch tiefere Löcher.

Fuest jedenfalls sieht die Zeit für Steuergeschenke noch nicht gekommen: „Ich finde die Idee unschlau. Wir kommen aus einer schweren Rezession, in der der Staat unglaublich viele Schulden angehäuft hat. Das war auch in Ordnung, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Aber im Boom muss man die Schulden mit Überschüssen wieder abbauen.“ Der Dresdener Finanzexperte Marcel Thum wittert unter dem Deckmantel binnenwirtschaftlicher Argumente gar ein Wahlgeschenk: „Steuersenkungen 2013, das hört sich sehr nach Wahljahr an.“

Die Deutsche Bundesbank erwartet 2011 dank der Konjunkturerholung einen Rückgang der Defizitquote von 3,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Vorjahr auf unter 2 Prozent. Der Defizitabbau werde sich 2012 wohl fortsetzten. Aus Sicht der Währungshüter stimmt also die Richtung. Doch um einen ausgeglichenen Haushalts zu erreichen, seien weitere Anstrengungen nötig.

In einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ machte Bundesbank-Präsident Jens Weidmann kürzlich klar: „Wir empfehlen dem Finanzminister, nicht vom Konsolidierungskurs abzuweichen. Der Fehler, dass in guten Zeiten nicht genug Haushaltsdisziplin gewahrt wurde, darf nicht wiederholt werden.“ Angesichts eines Schuldenstandes von rund zwei Billionen Euro, einer weiterhin hohen Neuverschuldung und absehbaren Belastungen durch eine alternde Bevölkerung sollte ein zügiger Defizitabbau Vorrang haben, sagte der frühere Wirtschaftsberater von Kanzlerin Angela Merkel (CDU).

Auch von anderer Seite bläst den Befürwortern von Steuersenkungen Wind ins Gesicht. DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki giftete: „Zu diesem Zeitpunkt Steuersenkungen in Aussicht zu stellen, ist so populistisch wie unverantwortlich.“ Angesichts ausgezehrter kommunaler Haushalte und der Kosten für die europäische Krisenbewältigung sei der Vorstoß „grob fahrlässig“.

In seltener Einigkeit mit der Gewerkschaft findet auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) wenig Gefallen an den Plänen. BDI-Präsident Hans-Peter Keitel warf der schwarz-gelben Koalition vor, die Debatte ohne Not vom Zaun gebrochen zu haben. Statt die strukturellen Probleme der Steuergesetzgebung anzugehen, werde über eine beliebige Entlastung um der Entlastung willen geredet.

Ökonom Fuest ist gar überzeugt: „Langfristig sind die Staatsausgaben deutlich höher als die Einnahmen. Eigentlich bräuchten wir eher noch höhere Einnahmen, damit das Budget im Gleichgewicht bleibt.“ Zudem weist er die Argumentation zurück, die Steuersenkungen würden die Konjunktur anschieben: „Wir sind in einem Boom. Dass wir die Binnenkonjunktur ankurbeln müssen, ist ein schrecklicher Unsinn.“

Zwar hat sich die Regierung auf den Umfang der Entlastungen noch nicht festgelegt. Erwartet wird ein Volumen zwischen 5 und 10 Milliarden Euro. Peanuts, findet Berenberg-Ökonom Christian Schulz und spricht von Symbolpolitik: „Diese Summe hätte weder großen Einfluss auf die Konjunktur noch auf die Staatsverschuldung.“