Analyse Die SPD - Eine Volkspartei a.D.

Berlin (dpa) - Die Leute springen auf, von der Wiedergeburt der SPD ist die Rede. Endlich ist da einer, der wieder klar links sein will, mehr Gerechtigkeit und ein Korrigieren der Agenda-2010-Reformen von Gerhard Schröder verspricht.

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Zahlreiche Genossen halten Plakate hoch, auf denen steht: „Zeit für Martin!“ oder „Jetzt ist Schulz!“.

Ein knappes Jahr später. Wieder ein politischer Aschermittwoch bei der nordrhein-westfälischen SPD. Der gleiche Ort, der holzgetäfelte Festsaal der Gaststätte Freischütz in Schwerte. Martin Schulz ist am Vortag in Berlin als SPD-Chef zurückgetreten - „ohne Wut und Groll“, wie er sagt. Und Andrea Nahles ist als erste Frau für den Parteivorsitz nominiert worden. Nun ist sie in Schwerte.

Kein Jubel, keine Plakate. Nur freundlicher Applaus, als sie im roten Mantel in den Saal marschiert. Sie redet viel von „Unterhaken“, von notwendigem neuem Teamgeist. Fast ohne Stimme krächzt sie von der „Göttinnendämmerung“ bei Angela Merkel - dass die Kanzlerin bald Geschichte sei und man dann da sein müsse. Doch die SPD ist derzeit so weit weg vom Kanzleramt, dass es wie ein Ablenkungsmanöver wirkt.

Denn nach dem Schulz-Fiasko und fast grotesken Querelen kommt nun die Quittung: Im ARD-Deutschlandtrend Extra fällt die SPD auf 16 Prozent, nur noch einen Punkt liegt sie vor der rechtspopulistischen AfD. Und, was Sorgen machen sollte: Nahles, die Trümmerfrau der SPD, wird nicht als große Hoffnungsträgerin gesehen: Nur 33 Prozent sind der Meinung, dass sie in der Lage wäre, die SPD wieder zu einen und nach vorne zu bringen. Auch bei den SPD-Anhängern sind es nur 48 Prozent.

„Das ist auch eine Quittung für die Aufstellung der letzten Tage“, sagt der Vizechef Thorsten Schäfer-Gümbel zu Mitgliedern in Recklinghausen. Denn dort muss jetzt inmitten dieser Lage für die Zustimmung zum Koalitionsvertrag mit der Union geworben werden. Darüber stimmen die 473.000 Mitglieder per Brief ab.

Auch Jusos-Chef Kevin Kühnert ist in Recklinghausen, er will die Erneuerung in der Opposition. In der GroKo gebe es nur Kompromisse und Kommissionen. Es gebe keine Antworten auf „krass ungleiche“ Vermögensverteilung. „Wo ist das Alleinstellungsmerkmal der SPD?“, fragt Kühnert.

Die Gründe für den Niedergang sind vielfältig, ein Erklärungsversuch.

SCHLINGERKURS: Mitte und wirtschaftsnah oder klar links. Martin Schulz stand symptomatisch dafür: erst links, keine große Koalition mehr. Dann wieder mehr Mitte, Ende der Oppositionsromantik, fragwürdige Kompromisse mit der Union. Peer Steinbrück wurde wiederum im Wahlkampf 2013 zu einem linken Wahlkampf gezwungen, der nie zu ihm passte. So schlingert die Partei seit Jahren zwischen den Folgen der Schröder-Jahre, während Merkel die Agenda-Politik klar und deutlich lobt - sie gilt als ein Grund für die guten Wirtschaftsdaten heute.

SCHLECHTE „VERKAUFE“: Ein führender Genosse sagt: „Ich kann doch auch den Stegner nicht mehr sehen.“ Wer solche Parteifreunde hat, braucht keine Feinde mehr, SPD-Vize Ralf Stegner muss (auch intern) oft als Gesicht der Griesgrämigkeit herhalten. Missgunst, schlechte Laune, dazu oft katastrophale Kommunikation. Man widerspricht sich, redet Erfolge schlecht. Jüngstes Beispiel: Das Erringen von sechs Ressorts, darunter die Schwergewichte Außen, Finanzen und Arbeit/Soziales in den Koalitionsverhandlungen wird nicht offensiv betont, kaum Salz in diese Wunde Merkels gestreut, da man mit sich selbst beschäftigt ist.

DAS OST-PROBLEM: Neben Manuela Schwesig, der Ministerpräsidentin von Meckleburg-Vorpommern, hat die Partei kaum bekannte Gesichter in Ostdeutschland, weite Landstriche werden wie im Süden zur Diaspora. 14,3 Prozent errang die SPD in den ostdeutschen Ländern bei der Bundestagswahl - die AfD satte 22,5 Prozent. Setzt man die richtigen Akzente? Die SPD setzte sich in den Koalitionsverhandlungen für mehr Geld für Europa ein - und kämpfte gegen eine Flüchtlings-Obergrenze. Das sind aber beides Themen, die viele der sogenannten kleinen Leute komplett anders sehen - in Ostdeutschland, aber auch im Ruhrgebiet.

AUFLÖSUNG VON MILIEUS: Es gibt heute kaum noch die klassische Arbeiterklientel mit festen Milieus, wo eine Familie immer das Kreuz bei den „Roten“ macht. Der Wechsel- und Protestwähler ist die neue Konstante. Und einige der Spitzenfunktionäre leben in der „Blase Berlin“, verlieren den Kontakt zur Basis. Da wird die „Ehe für alle“ zu einem der größten Erfolge der letzten Jahre hoch stilisiert. Aber das geht an den täglichen Sorgen vieler Bürger vorbei. Der ganze Unmut entlädt sich in den jüngsten internen Konflikten, der auch ein Misstrauensvotum gegen die Spitze ist, während sich Bürgerneistwewr und Landräte in den Kommunen abrackern. Nach dem Schulz-Hype gibt es den Kühnert-Hype, der Jusos-Chef beflügelt die Sehnsucht nach klarer Kante. Aber sein Programm ist ein schlichtes Nein zur großen Koalition, das schon vor den Verhandlungsergebnissen feststand.

FEHLENDE IDEE: Unter Willy Brandt wurde die SPD so erfolgreich, weil sie alten Ideologieballast im Godesberger Programm 1959 abgeworfen hatte. Man bekannte sich zum freien Wettbewerb, mauserte sich zur pragmatischen Volkspartei, die sich der katholischen Kirche und Unternehmern annäherte. Wegweisende Konzepte wie die neue Ostpolitik, eine Bildungsoffensive, gesellschaftliche Öffnung, dafür stand die SPD. Doch heute fehlt der SPD eine die Partei einende Zukunftsidee, vieöe hadern weiter mit den Folgen von Schröders Hartz-Reformen und man hat keine Antworten: Wie die Folgen der Globalisierung zähmen? Wie Ängste vor dem Verlust von Jobs durch Roboter und digitale Revolution bekämpfen? Warum werden Konzerne nicht stärker besteuert?

PARTEIENKRISE: Die französischen Sozialisten mussten sogar ihre Parteizentrale verkaufen, auch in Österreich und Italien sind die Sozialdemokraten in schwerer Not, während der Altlinke Jeremy Corbyn (wie Bernie Sanders in den USA) mit einem dezidiert linken Kurs die britische Labour Party beflügelt hat. Aber die SPD schwankt beim Kurs. Vieles hängt aber auch am Personal in Zeiten, wo traditionelle Parteien an Bindungskraft verlieren. Das zeigen die Aufstiege von Emmanuel Macron in Frankreich und Sebastian Kurz in Österreich, die jenseits ihrer Parteien alles auf ihre Person zugeschnitten haben.

Die SPD ist derzeit in weiten Teilen des Landes eine Volkspartei außer Dienst, zerrissen, ausgezehrt. Es ist keine fünf Jahre her, da feierte man im Leipziger Gewandhaus den 150. Geburtstag der deutschen Sozialdemokratie. „Es war die SPD, die den mühsamen und schließlich mehrheitsfähigen Weg beschritt, das Leben der Menschen konkret Stück für Stück zu verbessern, statt utopische Fernziele zu proklamieren“, sagte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck.

Und der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel formulierte als große Aufgabe der Zukunft, die aktueller denn je ist: „Die Globalisierung darf nicht Reichtum für wenige, sondern muss Gerechtigkeit für alle bedeuten.“ Die Traditionspartei SPD hat schon viele Stürme überstanden. Aber zuletzt schritten die Genossen alles andere als „Seit' an Seit“. Andrea Nahles übernimmt eine wahre Herkulesaufgabe.