Neue Parteichefin abgestraft Die zerrissene SPD und Nahles' schwere Hypothek

Wiesbaden (dpa) - Andrea Nahles hat tagelang an ihrer wichtigsten Rede gefeilt. Der Beginn ist überraschend einfach. „Mein Name ist Andrea Nahles. Ich bin 47 Jahre alt. Meine Tochter Ella und ich leben in der Eifel.“

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Sie grüßt ihre Mutter im Publikum. „Hallo Mama, Du hast sicher nicht gedacht, dass ich heute hier stehen würde.“ Dass Nahles so beginnt, hängt damit zusammen, dass es mit Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange eine Gegenkandidatin gibt - und beide sich den rund 600 Delegierten in Wiesbaden vorstellen sollen. „Katholisch. Arbeiterkind. Mädchen. Land“, sagt Nahles über Nahles.

Dieser Parteitag ist ein ungewöhnlicher - am Ende wird der vom Hof gejagte Vorgänger gefeiert fast wie früher und der Neustart liegt etwas in Trümmern. Nach all den Turbulenzen ist dies der fünfte SPD-Parteitag in 13 Monaten, notwendig geworden durch den Rücktritt von Martin Schulz - er ist auch in Wiesbaden, erfährt Dank, Applaus und mitunter unehrliches Schulterklopfen. Jusos-Chef Kevin Kühnert mahnt, mal endlich wieder über Inhalte statt über Personen zu reden.

Zu Schulz später mehr. Dieser 22. April 2018 ist ein historischer Tag, in der SPD-Zentrale gibt es eine Ahnengalerie. Die Vorgänger heißen zum Beispiel August Bebel, Friedrich Ebert, Kurt Schumacher, Willy Brandt und Gerhard Schröder. Einige Machos waren darunter, die Frauenpolitik als „Gedöns“ ansahen. „Viele Frauen kennen diese komische gläserne Decke, an die man immer wieder stößt“, sagt Nahles in ihrer Rede. „Irgendwas führt dazu, dass am Ende doch immer wieder Männer ganz vorne stehen. Auf diesem Bundesparteitag wird diese gläserne Decke in der SPD durchbrochen. Und sie bleibt offen.“ Jubel.

Eine gute Rede. Das Ergebnis der Wahl ist dann aber eine heftige Klatsche. Es zeigt, die SPD ist tief gespalten nach dem von Nahles, Schulz und dem neuen Vizekanzler Olaf Scholz mühsam erkämpften Eintritt in eine erneute große Koalition. Und Nahles ist eine Kandidatin des Establishments. Kann sie neuen Aufbruch, Erneuerung erzeugen? Es gibt viel Frust an der Parteibasis gegen „die da oben“.

Nur 66,35 Prozent Zustimmung werden um 14.14 Uhr verkündet, das schlechteste Ergebnis für sie bei Parteiwahlen, sie war 2007 bis 2009 Vizevorsitzende und von 2009 bis 2013 Generalsekretärin. Zum Vergleich: Angela Merkel bekam bei ihrer ersten Wahl zur CDU-Chefin 95,94 Prozent. Nahles wurde ja im Vorfeld als Trümmerfrau der SPD bezeichnet - die Zuschreibung passt angesichts des Ergebnisses.

Interessant: Sie bekommt praktisch genauso viel Zustimmung wie die große Koalition beim SPD-Mitgliederentscheid im März. Das eine Drittel der Skeptiker zu überzeugen, das wird die Herausforderung.

Die wollen gerne richtig linke Politik wie unter einem Parteichef wie Jeremy Corbyn in Großbritannien. Nahles will in die Mitte, da dort die Wahlen gewonnen werden. Neben der Frage nach dem Kurs muss sie Heckenschützen in der Partei bekämpfen.

Zum Ende des Parteitags dankt Nahles in ihrer ersten Amtshandlung Martin Schulz. Dieser hält eine Rede, wie befreit von dem Ballast. Fulminant, wie zu Beginn, als er noch Heilsbringer war. „Dann gibt es Krieg“, mahnt er, die Zeichen der Zeit in Europa zu sehen, für Zusammenhalt zu kämpfen. Nahles müsse man den Rücken stärken, statt ihr in den Rücken zu fallen.

Schulz vermittelt eine Idee, wofür die SPD gebraucht werde, vor allem in Europa - und wird gefeiert. Ein würdiger Abgang, er bekommt eine Willy-Brandt-Lithographie von Hans Stein geschenkt. Nun also Nahles.

Ihr Ergebnis ist auch überraschend, da Gegenkandidatin Lange eine mäßige Rede hält, ihr Kernprojekt ist eine Abschaffung von Hartz IV. Sie sagt Sätze wie: „Der Kniefall von Willy Brandt ist unser aller Kniefall.“ Was an der Basis registriert wurde: Im Umgang mit Lange zeigte die SPD-Spitze alte Muster. Lange lüge, ihr Konzept sei unterirdisch, wurde gestreut.

Wie unehrlich man mitunter miteinander umgeht, wird an dem neuen Bundesfinanzminister Scholz deutlich, der direkt aus Washington nach Wiesbaden gereist ist und sich als großkoalitionärer Gestalter gefällt. Nach dem Rücktritt von Schulz war er als Vize zwei Monate kommissarischer SPD-Chef. Er dankt Schulz über Gebühr für seine Verdienste, lobt die von Schulz ausgehandelten Europa-Reformpläne im Koalitionsvertrag. Aber Scholz war es, der immer wieder gegen Schulz stichelte, ihn dadurch demontierte. Hat Scholz etwa Angst, dass ihn Schulz in Wiesbaden zum Abschied öffentlich angreifen könnte?

Scholz meinte noch in Washington, der Parteitag mit der Wahl von Nahles sei der „Schlussstein“ in einem schwierigen Prozess. Das Gebäude steht nun, aber es ist ziemlich wacklig. Nahles' Botschaft in Zeiten, in denen die SPD mal wieder die Selbstzweifel-Partei Deutschlands ist: „Wir packen das, das ist mein Versprechen.“

Aber wie? Es gehe um nichts weniger als um den Erhalt „unserer eigenen Demokratie“, betont sie mit Blick auf die AfD, die im Osten die SPD längst überrundet hat. Und man müsse den Wohlstand gerechter verteilen; auch indem die Datenkonzerne mehr Steuern zahlen. Sie will den Daten-Kapitalismus bändigen, die Globalisierung fairer gestalten.

Die SPD stehe für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Über Alternativen zu Hartz IV will sie zumindest reden. „Lasst uns die Debatte mit Blick auf das Jahr 2020 führen, nicht mit Blick auf das Jahr 2010“, warnt sie aber vor rein rückwärtsgewandten Debatten.

Und sie will eine diplomatische Dialogoffensive mit Russland; in der SPD-Spitze ist in Wiesbaden Unmut über die harte Russlandkritik von Außenminister Heiko Maas zu hören - auch hier knirscht es also.

Vor der Halle in Wiesbaden verteilt die Junge Union Ohrstöpsel, um Nahles nicht hören zu müssen. Dazu Karten mit einem Nahles-Bild mit aufgerissenem Mund und einem Zitat von CSU-Übervater Franz-Josef Strauß: „Politik wird mit dem Kopf gemacht, nicht mit dem Kehlkopf“.

Es sind diese Klischees, unter denen Nahles' Ruf auch so leidet. Nur jeder zweite im Land (und je nach Umfrage noch weniger) traut ihr zu, die SPD zu neuer Stärke zu führen. Für viele ist sie immer noch die laute Jusos-Chefin, die 1995 beim Parteitag in Mannheim mithalf, dass Oskar Lafontaine Rudolf Scharping stürzen konnte. Das war zuvor die einzige Kampfkandidatur. Es ist eine gewisse Ironie: vor 100 Jahren erkämpfte die SPD das Frauenwahlrecht, aber erst 18 Jahre nach der konservativen Konkurrenz von der CDU bekommen die Sozialdemokraten ihre erste Frau an der Spitze. Sie singen in Wiesbaden wie am Ende eines jeden Parteitags: „Wann wir schreiten Seit' an Seit'“ Die Realität sieht bei der SPD aber irgendwie gerade anders aus.