Analyse Folgen der Schrumpfkur? Was schief läuft in der Bundeswehr
Berlin (dpa) - Ein rechtsextremer Oberleutnant, der völkische Thesen in seiner Abschlussarbeit ausbreitet - und gerade mal mündlich verwarnt wird. Soldatinnen, die in Pfullendorf vor Kameraden nackt an der Stange tanzen und sich im Intimbereich abtasten lassen müssen - die sadistischen Sex-Praktiken kommen erst Monate später ans Licht.
Ein Obergefreiter, der bei den Gebirgsjägern in Bad Reichenhall sexuell belästigt wird, und das fast ein ganzes Jahr lang. Ausbilder in Sondershausen, die ihre Untergebenen erniedrigen und bis zum Zusammenbruch laufen lassen. Was läuft schief bei der Bundeswehr?
Bis zur Affäre rund um den rechtsextremen Franco A., der sich als Flüchtling tarnte und womöglich einen Anschlag plante, spricht Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) von bedauerlichen Einzelfällen. Nun erklärt sie die Missstände in der Truppe zu einem systemischen Problem. „Zu groß ist die Zahl der Vorfälle, zu gravierend die zutage getretenen Fehlentscheidungen“, schrieb die CDU-Politikerin am Montag in einem offenen Brief an die Truppe.
Der Inspekteur des Heeres, Jörg Vollmer, erklärt sich die Probleme auch mit den Belastungen der Bundeswehr in den vergangenen Jahren. „Seit der Wiedervereinigung haben wir ja immer wieder die Strukturen verändert“, sagt der Generalleutnant. Die Truppe habe eine Vielzahl von Aufgaben, die Rahmenbedingungen seien komplexer geworden.
„Wir haben immer wieder Strukturen angepasst, wir haben Standorte geschlossen, wieder neue aufgebaut, Personal querversetzt. Das darf aber nicht als Entschuldigung gelten, never ever.“ Im Mittelpunkt stehe das menschliche Versagen. Aber die Strukturen böten zumindest einen Erklärrahmen. Kommt der Mensch, die Ausbildung zu kurz?
Mehr als ein Vierteljahrhundert bestimmten Sparzwänge die Verteidigungspolitik. Die Folge: viel Frust, wenig Personal, schlechte Ausrüstung. Zwar ist das Ende der Schrumpfkur eingeleitet, aber die Reformen sind längst nicht angekommen in der Truppe. Gleichzeitig soll die Bundeswehr mehr Verantwortung in der Welt übernehmen, vom Baltikum bis Mali.
„In der langen Phase des Abbaus, wo immer zu viele Soldaten da waren und zu wenig Geld, haben sich Probleme angestaut“, meint auch der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels (SPD). „Durch die hohen Auftragsbelastungen gibt es die Gefahr, dass scheinbar weiche Ausbildungsinhalte, politische Bildung, Ethik, Innere Führung, Sport, eher mal vom Dienstplan runterfallen.“
Spätfolgen von Sparzwängen können Exzesse auch zumindest indirekt begünstigen. Dass Franco A. trotz rassistischer Arbeit weiter seinen Dienst verrichten durfte, mag auch an seinen hervorragenden Leistungen als Soldat gelegen haben. „Klar ist, wir haben auch eine Situation, in der sich die Bundeswehr kaum leisten kann, Leute zu verlieren“, sagt Bartels.
Nur die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 habe nichts mit den Missständen zu tun, sagt Bartels. Der Ausbilder in Sondershausen habe seit mehr als 20 Jahren gedient, auch Franco A. war seit 8 Jahren Soldat. „Es kommen nicht plötzlich massenhaft Nazis rein, nur weil die Wehrpflicht abgeschafft ist.“
Die Armee wird in Zeiten der Personalnot zudem immer älter, sagt Heereschef Vollmer, die Soldaten würden immer länger verpflichtet. Während die älteren Soldaten nach Dienstende zur Familie führen, blieben die jungen oft nachts auf der Stube. „In den Kasernen sind die jungen Leute allein gelassen“, sagt auch Bartels. Es gebe weniger Platz in den Kasernen und nachts weniger Wachpersonal. Die Dienstaufsicht müsse generell wieder gestärkt werden. „Kompaniechefs und Spieße wollen das, sitzen aber oft viel zu lange am Schreibtisch und kämpfen den Kampf der Bürokratie.“
Das Ministerium will nicht nur gegen die Verfehlungen der Soldaten, sondern vor allem gegen das Versagen der Vorgesetzten vorgehen. Missstände wurden nicht nach oben gemeldet. „Über acht Jahre erreichen mich immer wieder Rückmeldungen von Soldaten, die versuchen Probleme zu melden, dem wird nicht nachgegangen oder vertuscht“, klagt Grünen-Verteidigungsexpertin Agnieszka Brugger. Man müsse die Fehlerkultur und die Ausbildungsinhalte nun genau betrachten.
„Das Nach-oben-Weichzeichnen der Lage ist sicher eine Tendenz der letzten Jahre und Jahrzehnte“, sagt Bartels. Manche Soldaten hätten unter Personal- und Materialmängeln den Eindruck gewonnen, die politische Führung wolle von Problemen nichts hören. Von der Leyen habe die Führungs- und Fehlerkultur deshalb richtigerweise thematisiert.
Sie müsse aber aufpassen, warnt Bartels: Die unteren Ebenen müssten auch weiterhin Verantwortung übernehmen. „Wenn sie alles wissen will, kriegt sie alles auf den Schreibtisch. Das wird sie nicht bewältigen können.“