Karlsruhe kippt das Wahlrecht
Karlsruhe (dpa) - Das Bundesverfassungsgericht hat die von der schwarz-gelben Koalition im Alleingang beschlossene Reform des Wahlrechts gekippt.
Die Richter erklärten zentrale Bestimmungen des Gesetzes für unwirksam. Sie beanstandeten Verzerrungen durch zu viele Überhangmandate und widersinnige Effekte bei der Berechnung der Abgeordnetensitze. Damit gibt es derzeit kein gültiges Wahlrecht für den Bundestag. Eine Neuregelung muss spätestens bis zur Wahl im Herbst kommenden Jahres beschlossen werden.
SPD, Grüne und mehr als 3000 Bürger hatten in Karlsruhe geklagt. Die Koalitionsparteien hatten erst Ende 2011 das neue Wahlrecht gegen die Stimmen der Opposition beschlossen.
Nach Meinung von SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hat das Gericht Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Grenzen aufgezeigt und klargestellt, dass zu viele Überhangmandate das Wahlergebnis verzerrten. „Diesen Grundsatz kann auch Frau Merkel nicht außer Kraft setzen. Sie hat das Wahlrecht für Machtpolitik zu missbrauchen versucht.“
Der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Michael Grosse-Brömer, bot der Opposition rasche Gespräche an. „Wir als Union werden nun erneut entsprechende Vorschläge an alle Fraktionen im Deutschen Bundestag machen“, sagte Grosse-Brömer der „Stuttgarter Zeitung“ (Donnerstag). Er werde „Ende August, vielleicht auch Anfang September“ erste Gespräche mit den Oppositionsfraktionen führen.
Der Fraktionsgeschäftsführer der Grünen, Volker Beck, setzt darauf, „dass wir jetzt in parteiübergreifenden Gesprächen zwischen allen fünf Fraktionen zu vernünftigen Ergebnissen kommen“. An die Koalition gerichtet sagte er: „Wir warnen davor, nochmal durchzuzocken.“
Bereits 2008 hatte Karlsruhe das frühere Wahlrecht für teilweise verfassungswidrig erklärt und innerhalb von drei Jahren eine Neuregelung verlangt. Nachdem es zu keiner parteiübergreifenden Lösung gekommen war, hatten Union und FDP im September vergangenen Jahres die Reform des Wahlrechts alleine durchgesetzt.
Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle sagte: „Angesichts der Vorgeschichte des neuen Wahlrechts sieht der Senat keine Möglichkeit, den verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu akzeptieren.“
Die Karlsruher Richter ließen an der Reform wenig Gutes. Die Verteilung der Abgeordnetensitze verstoße „in mehrfacher Hinsicht gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit“, sagte Voßkuhle. Indirekt warnten die acht Richter: Man habe diesmal zum Teil detailliertere Vorgaben gemacht, damit „das Risiko einer Bundestagsauflösung im Wahlprüfungsverfahren (...) minimiert wird“.
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisierte indirekt das Verfahren bei der Reform und forderte eine fraktionsübergreifende Lösung. Bei der Korrektur „empfiehlt es sich dringend, (...) eine möglichst einvernehmliche Lösung zu finden, um auch nur den Anschein einer Begünstigung oder Benachteiligung einzelner Parteien oder Kandidaten zu vermeiden“.
Die Richter beanstandeten vor allem den Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts. Demnach kann es dazu kommen, dass die Abgabe einer Stimme der jeweiligen Partei bei der Berechnung der Abgeordnetenzahl im Ergebnis schadet. Grund hierfür ist die Bildung von Sitzkontingenten in den einzelnen Bundesländern.
„Solche widersinnigen Wirkungszusammenhänge zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg beeinträchtigen nicht nur die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien, sondern verstoßen auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, da es für den Wähler nicht mehr erkennbar ist, wie sich seine Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann.“
Die Richter beanstandeten außerdem, dass das Wahlrecht die Möglichkeit zahlreicher Überhangmandate schafft. Solche Zusatzmandate entstehen, wenn die Kandidaten einer Partei mehr Wahlkreise direkt gewinnen, als dem Stimmenanteil der Partei bei den Zweitstimmen entspricht. Diese Mandate kommen tendenziell den großen Parteien zugute - bei der Bundestagswahl 2009 gingen alle 24 an die Union.
„Überhangmandate sind nur in eng begrenztem Umfang mit dem Charakter der Wahl als Verhältniswahl vereinbar“, erklärten die Richter. Es dürften jedoch nicht so viele werden, dass sie „den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben“. Die Höchstgrenze liege etwa bei der Hälfte der Zahl von Abgeordneten, die für die Bildung einer Fraktion erforderlich ist - derzeit bei etwa 15.