Sondierungen Zauber statt Zaudern
Berlin (dpa) - Martin Schulz empfängt die Besucher höchstpersönlich. An der gläsernen Eingangstür der SPD-Zentrale begrüßt der Chef der Sozialdemokraten morgens um kurz vor 10 erst den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer, auch Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) stößt dazu.
Dann kommt die Kanzlerin. „Herzlich willkommen im Willy-Brandt-Haus“, sagt Schulz. „Ist Ihnen ja bekannt, ne?“ Ja, ist ihr bekannt. Die CDU-Chefin hat hier schon manche Stunde verbracht. Vor vier Jahren etwa, in der letzten Nacht der Verhandlungen von Union und SPD, als beide Seiten die bis heute amtierende große Koalition vereinbarten. Nun also das Ganze noch mal?
Tag eins der Sondierungen von Union und SPD, Tag 105 nach der Bundestagswahl - und die Parteichefs mühen sich, etwas gute Laune zu verbreiten. Als Schulz am Morgen vor die Mikrofone tritt, hat er einen freundlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt. „Wir ziehen keine roten Linien, aber wir wollen möglichst viel rote Politik in Deutschland durchsetzen.“ Und für den Seelenfrieden der eigenen Partei liefert er seine gewohnte Wendung mit, die Gespräche seien absolut „ergebnisoffen“.
Schon die Ortswahl hat Symbolisches. Merkel als Verhandlungsführerin überlässt Schulz den ersten Auftritt als Hausherr - und damit die Bilder. Sie zeigen, dass die Kanzlerin mit ihrem Gefolge in die rote Zentrale kommen muss, um sieben Wochen nach den an der FDP gescheiterten Jamaika-Sondierungen vielleicht doch noch ihre vierte stabile Regierung hinzubekommen.
Auch die wohl bis tief in die Nacht zu diesem Freitag dauernden Abschluss-Verhandlungen werden im Willy-Brandt-Haus sein. Offensichtlich will man, dass Schulz und seiner SPD die Verkündung von Erfolg oder Misserfolg der Sondierung obliegt. Und damit erst mal die Deutungshoheit. Und es wird zugleich die besondere Verantwortung der Sozialdemokraten klar gemacht: Mit ihnen steht und fällt eine stabile große Koalition.
Seehofer zeigt sich bei seiner Ankunft in der SPD-Zentrale in bester Stimmung. „Erstens fühlt man sich immer wohl in Berlin, zweitens haben wir jetzt spannende fünf Tage vor uns, und drittens weiß ich, dass wir uns verständigen müssen.“ Was er natürlich nicht sagt: Auch seine politische Zukunft hängt vom Erfolg der Verhandlungen ab. Schmieden CDU, SPD und CSU am Ende tatsächlich wieder eine Koalition, könnte er tatsächlich als CSU-Chef an Merkels Kabinettstisch nach Berlin wechseln. Damit er von dort aus seinem langjährigen Intimfeind Markus Söder die Bühne nicht ganz überlassen muss.
Merkel lässt ebenfalls wissen, sie gehe optimistisch in die Gespräche. „Allerdings ist mir klar, dass in den nächsten Tagen auch ein Riesenstück Arbeit vor uns liegt“, sagt sie, während Demonstranten auf der anderen Straßenseite in ihre Trillerpfeifen pusten. CDU-Vize Thomas Strobl (CDU) wird sogar poetisch und bemüht ein Zitat von Hermann Hesse: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“
Nun ja, vor zweieinhalb Monaten war auch schon viel von Optimismus die Rede. Als die Union am 20. Oktober endlich mit FDP und Grünen in großer Runde in die Sondierungen startete, sagte Seehofer: „Ich bin zuversichtlich.“ Und Merkel schloss sich an: „Ich auch.“ Am Ende blieb davon nichts übrig, die FDP ließ das Experiment platzen.
Umso wichtiger ist es den Spitzen von Union und SPD, dass nun möglichst nichts an jene glücklosen Jamaika-Tage erinnert. Ein anderer Modus soll her, ein anderer Stil. Keine Begleit-Provokationen per Interview, keine Durchstechereien.
Während die Jamaika-Parteien am Rande ihrer Gespräche ausgiebig auf dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft für die Kameras posierten, schotten sich die potenziellen Partner diesmal ab. Die Fenster zu den oberen Stockwerken der SPD-Zentrale, wo die Unterhändler tagen und Kartoffelsuppe mit Würstchen löffeln, sind abgeklebt. Die drei Parteien wollen sich nicht in die Karten schauen lassen.
Die Partner haben sich weitgehendes Schweigen verordnet. Solange die Gespräche laufen, sollen die Sondierer keinerlei Interviews geben - das beschließt die Runde offiziell, quasi als erste Amtshandlung. Ob das hält?
Am Ende eines jeden Verhandlungstages soll nur der Generalsekretär der jeweiligen Gastgeberseite ein abgestimmtes Statement verkünden - am Sonntag ist das SPD-Mann Lars Klingbeil. Viel hat er nicht zu verraten, als er abends gegen 20.00 Uhr vor die Mikrofone tritt. Die Gespräche seien konstruktiv verlaufen. „Man kennt sich.“ In manchen Arbeitsgruppen sei man schon weit, in anderen weniger. Man befinde sich in einer neuen Zeit, brauche eine neue Politik - und einen neuen politischen Stil. Was genau das bedeuten soll, lässt er offen.
Dass sich etwas ändern muss, wissen aber auch die Parteichefs von CDU, CSU und SPD. Merkel, Schulz und Seehofer - alle drei - sind nach den miserablen Wahlergebnissen ihrer Parteien schwer angeschlagen. Der Kanzlerin sind innen- und außenpolitisch seit der Wahl die Hände gebunden. Immer öfter muss sie lesen, der Zenit ihrer Macht sei überschritten, die Endphase ihrer Regierungszeit angebrochen. Und tatsächlich: Falls es scheitert und am Ende eine Neuwahl ansteht, dürfte sie sich sehr genau überlegen, ob sie noch mal antritt. Auch wenn sie das nach dem Jamaika-Scheitern sofort angekündigt hat.
Für Schulz steht genauso alles auf dem Spiel. Er hatte sich nach dem Debakel bei der Bundestagswahl und dem Jamaika-Aus vorschnell und kategorisch für den Gang in die Opposition entschieden. Nach dieser Ansage hat die SPD lange gehadert und gezaudert, ob sie überhaupt mit der Union sondieren soll. Das hat für heftige Zerwürfnisse in der Partei gesorgt.
Die schwierigste Aufgabe steht Schulz noch bevor: Sollten sich Union und SPD einig, muss er am Sonntag in zwei Wochen einen Parteitag davon überzeugen, dass die SPD in richtige Koalitionsverhandlungen einsteigen soll. Das kann er nur, wenn er der Union vorher inhaltlich möglichst viel abringt. Bringt Schulz den Parteitag in dem Fall nicht hinter sich, ist er selbst weg. Im übrigen aber auch der gesamte SPD-Vorstand. Es sind entscheidende Tage für viele.