Der Ur-Chopper: Harley-Davidsons FX Super Glide
Berlin (dpa/tmn) - Spätestens seit dem Film „Easy Rider“ von 1969 gelten Chopper als Sinnbild für Freiheit und Abenteuer. Wer damals ein solches Motorrad fahren wollte, musste selber schrauben - bis Harley-Davidson die Super Glide präsentierte.
Harley-Davidson-Fahrer sind Individualisten: Keine anderen Motorräder werden so häufig nach Gusto ihrer Besitzer umgebaut und veredelt wie die legendären Maschinen aus Milwaukee. Ende der 1960er Jahre boomte in den USA der Trend zum besonderen Bike - die beiden Leinwandhelden aus „Easy Rider“ trugen dazu einen beträchtlichen Teil bei. Mit extremen Harley-Umbauten unterm Hintern hatten sie Amerikas Jugend endgültig davon überzeugt, das Originalmodelle nur etwas für Spießer sind. Das ging an Willie G. Davidson, dem Gründerenkel und Chefdesigner von Harley-Davidson, nicht vorbei und spornte ihn an, eine für die damalige Zeit radikale Serienmaschine zu entwerfen: die FX 1200 Super Glide.
Davidson wusste genau, was die jungen Motorradfahrer wollten. Bei Bikertreffen war er Stammgast, spürte dort neue Trends auf. Die wohl wichtigste Strömung mündete damals im Purismus: Chopper lautete das Stichwort. Dieser Begriff ist vom englischen Verb „chop“ abgeleitet, was „hacken“ bedeutet. Chopper sind daher Maschinen, bei denen alle überflüssigen Teile kurzerhand „abgehackt“ wurden - Schutzbleche, Trittbretter und Verkleidungsteile. Da diese abgespeckten Motorräder nicht von der Stange zu bekommen waren, legten die Besitzer selbst Hand an. Als Basis für die Umbauten dienten häufig Touring-Maschinen von Harley-Davidson.
Kein Zufall also, dass Willie G. Davidson den mächtigen Tourer Electra Glide als Ausgangsmodell für seine Chopper-Pläne wählte. Ohnehin fehlte auch das nötige Geld, um ein komplett neues Motorrad zu entwickeln, denn das Unternehmen war finanziell angeschlagen. Der Designer kombinierte den Rahmen, den 1200 Kubikzentimeter großen V-Motor und das dicke Hinterrad der FL Elektra Glide mit der engen Teleskopgabel und dem schmalen Vorderrad der XL Sportster. Mit vergleichsweise wenig Aufwand war der Chopper-Look perfekt. Die Typenkürzel der beiden Teilespender verschmolzen zu einer neuen Kennung: Die FX 1200 Super Glide war geboren.
Die ersten Maschinen kamen 1971 zu den Händlern. Allerdings hielt sich die Begeisterung der Kunden anfangs in Grenzen. Schuld daran waren Details wie der dicke Tank, die überlange Stufensitzbank und vor allem das klobige Fiberglasheck, das Willie G. Davidson exklusiv für den ersten Serien-Chopper entworfen hatte. Dieses sogenannte Boat Tail mit integriertem Rücklicht und spitz zulaufendem Abschluss ragte weit übers Hinterrad hinaus und sah aus wie von einem anderen Stern.
Um die prinzipiell vielversprechende Modellidee nicht im Keim zu ersticken, wurde die FX Super Glide in Windeseile nachgebessert. Nur ein Jahr nach der Premiere war das Boat Tail Geschichte - und die Maschine kaum wiederzuerkennen: Mit einem kurzen, geschwungenen Heck-Schutzblech und der gestutzten Sitzbank wirkte das Motorrad kompakter und das Design insgesamt harmonischer. Der verkleinerte Tank verstärkte den gewollten Kontrast zwischen der filigranen Front und dem bulligen Rahmen. So gefiel die Mutter aller Chopper von der Stange auch der Kundschaft.
Mit dem Boat Tail hat Harley-Davidson gerade einmal 4700 Maschinen gebaut. Die meisten davon wurden von ihren Besitzern nachträglich um das futuristische Heck erleichtert. Deshalb sind die ursprünglichen Super Glides heutzutage extrem selten - und teuer: Sammler müssen für eine Maschine der ersten Generation im Urzustand 20 000 Euro oder mehr einkalkulieren. Zum Vergleich: Bei der Markteinführung 1971 hatte der Hersteller hierzulande für eine neue FX Super Glide 14 198 D-Mark verlangt. Viel günstiger wurden sie damals in den USA für 2230 Dollar angeboten.
In deutlich größerer Stückzahl als das Debüt-Modell produzierte Harley-Davidson ab 1972 die neu gestaltete FX Super Glide. Innerhalb kürzester Zeit avancierte sie zum Verkaufsschlager, obwohl eine technische Annehmlichkeit fehlte: Um den 46 kW/62 PS starken Motor in Gang zu bringen, waren kräftige Tritte auf einen Kick-Hebel nötig. Zwar hatte Harley seit 1964 einen elektrischen Anlasser im Programm. Allerdings war eine große und schwere Batterie erforderlich, damit der Druck auf den Startknopf am Lenker Wirkung zeigte - und die ließ sich nur schlecht mit dem kargen Chopper-Konzept in Einklang bringen. Erst 1974 fiel die Entscheidung, einen E-Starter zu montieren.
Mit der FX 1200 Super Glide war Harley-Davidson in doppelter Hinsicht ein Coup gelungen: Einerseits schaffte es der Motorradbauer, seine Modellpalette in kurzer Zeit um ein Erfolgsmodell zu bereichern. Andererseits legte Willie G. Davidson mit der FX den Grundstein für eine Tradition, die das Unternehmen bis heute pflegt: das sogenannte Factory Customizing, also Maschinen im klassischen Chopper-Stil der wilden 1970er Jahre aufzubauen. So bekommen Biker echtes „Easy Rider“-Feeling, ohne sich für abenteuerliche Umbauten selbst die Finger schmutzig machen zu müssen.