Ai Weiwei und das Fahrrad: Willkür und Unrecht in China

Peking (dpa) - Vor dem Tor des Studios von Ai Weiwei in Peking steht ein Fahrrad. Jeden Morgen legt der berühmte Künstler ein paar Blumen in den Korb. Er macht ein Foto und verbreitet es über den Kurznachrichtendienst Twitter.

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Der 56-jährige Regimekritiker protestiert seit vier Monaten mit der täglichen Aktion dagegen, dass ihm die Behörden den Reisepass nicht zurückgeben. So kann Ai Weiwei auch nicht einmal zu der weltweit größten Ausstellung seiner Kunstwerke reisen, die gerade in Berlin im Martin-Gropius-Bau läuft.

Das Fahrrad hat eine Geschichte. Es gehörte einst dem Deutschen Nils Jennrich. Der Kunstspediteur saß fast fünf Monate in einer überfüllten Zelle in einem chinesischen Gefängnis. Ohne Anklage. Nach Intervention der Bundesregierung kam Jennrich im August 2012 frei, musste aber noch mehr als acht Monate warten, bis er ausreisen durfte. Erst ein Anruf des Büros von Regierungschef Li Keqiang brachte ihm den Pass zurück und erlaubte ihm im Mai 2013 die Ausreise. Li wollte nicht, dass der Fall weiter die Beziehungen und seinen damals bevorstehenden Deutschland-Besuch überschattete.

Das Fahrrad als Aktionskunst: „Es symbolisiert jemanden, der verschwunden, vermisst ist“, sagt Ai Weiwei der Nachrichtenagentur dpa. Er habe großes Mitgefühl für den Leidensweg Jennrichs. Beide lernten sich vor einem Jahr kennen. „Es gab keine klare Antwort, warum er festgenommen wurde - kein rechtmäßiges Verfahren“, sagt Ai Weiwei. „Ich habe auch so etwas durchgemacht, wenn auch aus anderen Gründen.“ Er wurde 2011 selbst fast drei Monate inhaftiert.

Viele Menschen in China verschwinden einfach, kommen in Haft, können sich nicht wehren, finden kein Recht. „Es gibt so viele Menschen, die ich kenne, wie etwa Anwälte, Akademiker, Menschenrechtsaktivisten, Vertreter sozialer Gruppen oder einfache Leute, die sich engagieren und den Mund aufmachen, die ins Gefängnis gesteckt worden sind, zum Schweigen gebracht wurden oder bestraft worden sind“, sagt Ai Weiwei.

„Was Ai Weiwei macht, ist mutig. Ein stiller Protest gegen das System“, sagt Jennrich, der heute in Hamburg lebt und arbeitet. „Seine Stimme wird im Westen gehört - letztendlich steht er aber stellvertretend für ungezählte andere Menschen in China, denen täglich ähnliche Dinge passieren.“ Der 33-Jährige hat inzwischen seine schwedische Freundin Jenny geheiratet, die in Peking für seine Freiheit gekämpft hatte. Im Juli kam die gemeinsame Tochter zur Welt.

Wie Ai Weiwei sieht Jennrich gewisse Parallelen in ihren Schicksalen. „Im Gefängnis habe ich viele andere Menschen aus China und auch aus dem Ausland kennengelernt, die teilweise Monate nach ihrer Inhaftierung noch keinen Kontakt zu ihren Familien oder Botschaften hatten“, berichtet Jennrich der dpa. „Diese Menschen sind quasi von jetzt auf gleich spurlos verschwunden.“

Die Ungewissheit in Haft sei die größte psychologische Belastung gewesen, sagt Jennrich, der nach seinen Worten alles gut überstanden hat. „Mit dem Abflug aus Peking war das aber vorbei. Heute denke ich, wenn überhaupt, nur noch an meine Mithäftlinge und ihr jeweiliges Schicksal.“ Von den Vorwürfen wegen angeblichen Zollbetrugs hat er nichts mehr gehört. Über die Hintergründe wird viel spekuliert. Viele Indizien sprächen dafür, dass zwei einflussreiche Konkurrenten seine Kunstspedition aus dem Geschäft drängen wollten, sagt Jennrich.

Der Staatsanwalt erhob keine Anklage und gab den Fall mangels Beweisen an den Zoll zurück. Doch wurden die Vorwürfe nicht fallengelassen, weil sich sonst die Haft als Unrecht und die Justiz als fehlbar erwiesen hätte. Ob die mangelnde Rechtssicherheit in China eine Gefahr für Geschäftsleute sei? „Das muss jeder Unternehmer und Arbeitnehmer, der nach China kommt, selbst entscheiden“, sagt Jennrich. Größere Risiken gingen einher mit großen Chancen.

In der Sendereihe „Menschen hautnah“ plant der WDR eine Dokumentation mit dem Titel „Zwischen Willkür und Glück“ darüber, welches Unrecht Jennrich und Ai Weiwei erlebten und wie sich ihre Wege kreuzten. Der Deutsche und seine Frau sind heute auf jeden Fall froh, wieder in Europa zu sein. „Aber ich bereue nicht, in China gewesen zu sein“, blickt Jennrich ohne Zorn zurück. Natürlich hätte er auf die Haft und die Monate danach „sehr gut verzichten“ können. „Aber insgesamt hatte ich eine schöne Zeit in China“, sagt er. „Ich habe viele Freunde dort und würde gerne eines Tages wieder nach China reisen können.“