Als die Bücher denken lernten
Dem Illustrator Jörg Müller ist eine Ausstellung mit dem Titel „Die Welt ist kein Märchen“ gewidmet. Obwohl er sie so sieht.
Troisdorf. Als Kind hatte Jörg Müller sich geärgert, wenn er in Bilderbüchern auf unstimmige Details stieß. Umso genauer arbeitet er nun selbst als Illustrator. Seine Bücher und Bildermappen vermitteln exakt beobachtete Wirklichkeit und kommen zuweilen auch ohne Text aus, wie sein berühmtes Werk, mit dem der 30-jährige Schweizer 1973 schlagartig berühmt wurde: "Alle Jahre wieder/ saust der Presslufthammer nieder - oder Die Veränderung der Landschaft".
Die Bilder mit dem schönen rosafarbenen Haus, dessen grüne Umgebung im Lauf der Jahre zubetoniert wird, wurden zu Ikonen eines neuen Bewusstseins. Das vielfach preisgekrönte Buch und sein Nachfolger "Hier fällt ein Haus, dort steht ein Kran/und ewig droht der Baggerzahn oder Die Veränderung der Stadt" stehen für die Revolutionierung des Bilderbuchs, das mit neuen politischen Inhalten für die ganze Familie interessant wurde.
Gemeinsam mit dem Autor Jörg Steiner setzte sich der Künstler mit einer Gesellschaft auseinander, in der Menschen und Tiere auf ihren bloßen Nutzen reduziert werden. Da brechen zwei Kaninchen aus einer Kaninchenmastfabrik aus ("Die Kanincheninsel"), ein Bär, der für einen unrasierten Arbeiter gehalten und ans Fließband geschickt wird, kehrt wieder in den Wald zurück ("Vom Bär, der ein Bär bleiben wollte").
In einer modernen Version der Bremer Stadtmusikanten brechen vier Tiere aus ihrem Dasein als Markenzeichen aus, um eine bessere Existenz zu finden. Ironisch: Sie landen in einer Fernsehanstalt, wo sie gleich vermarktet werden ("Der Aufstand der Tiere"). Man kann diese Weltsicht romantisch nennen, und tatsächlich wirken die Landschaften in Jörg Müllers Bildern durchaus romantisch. Da sitzt etwa ein Bär auf einem Felsen und blickt so melancholisch in die Ferne, als hätte ihn Caspar David Friedrich gemalt.
Der Künstler kann auf ein reiches Lebenswerk zurückblicken. Das vermittelt die Ausstellung "Die Welt ist kein Märchen", die derzeit im Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf zu sehen ist und Ende Juni ins Duisburger Lehmbruckmuseum kommt.
Die Kuratorin, die Düsseldorfer Graphikdesignerin und Bilderbuchexpertin Inge Sauer, stellte wunderschöne Originale zusammen, Skizzen, Aquarelle und Vorzeichnungen, die durch ihre künstlerische Qualität bestechen. Der aufschlussreiche Katalog lehrt nicht nur, die Bilder zu "lesen". Müller erzählt auch von seiner Arbeit. Bis zu drei Jahre recherchierte er für ein Buch - "ein Vergnügen", sagt er.
Seit der Sauerländer Verlag zum Verlagshaus Patmos gehört, sind nicht mehr alle Bücher von Jörg Müller lieferbar. Zwei sollten aber dringend wieder aufgelegt werden, denn sie sind besonders originell und brandaktuell: "Was wollt ihr machen, wenn der Schwarze Mann kommt" von 1998, eine böse Satire über den Überwachungsstaat, und "Der standhafte Zinnsoldat" nach dem Märchen von H.C. Andersens. Darin sinniert der Künstler über den Wohlstandsmüll, aus dem ein afrikanisches Kind sich ein neues Spielzeug bastelt, das dank eines findigen Sammlers wieder in Europa landet - in einem ethnographischen Museum!