Überraschungen in Mülheim

Das Museum Alte Post präsentiert klassische Moderne und Avantgarde, etwa Clivia Vorrath.

Mülheim. Die Stadt an der Ruhr ist mit 165 000 Einwohnern nicht groß, dennoch macht sie immer wieder durch ihre Persönlichkeiten auf sich aufmerksam. Heute sind es die Aldi-Brüder, nach dem Krieg war es der Chemie-Nobelpreisträger Karl Ziegler. Beide Parteien sind als Sammler bekannt, mit dem Unterschied, dass die Aldi-Brüder für sich selbst kaufen, Ziegler aber für das Kunstmuseum der Stadt Mülheim zusammentrug.

Die Sammlung Karl und Maria Ziegler, die der Stadt vermacht wurde, besteht aus hochkarätiger expressionistischer Malerei. Im Verbund mit der städtischen Sammlung gilt das Mülheimer Museum in der Alten Post als Fundgrube der klassischen Moderne. Jetzt wurde es nach Schließung und Sanierung wieder geöffnet.

Ein überraschendes Haus dank seiner Bilderbuch-Werke. Dazu gehören das berühmte Bildnis von Max Beckmann, "Quappi mit Papagei" (1936), Max Ernsts Dreier-Ei ("A l’interieur de la vue: oeuf", 1929), Franz Marcs "Kühe unter Bäumen" (1910/11), herrliche Noldes, Jawlenskys und vieles andere mehr.

Die Böden sind nun aus grauem Industrieboden, die technischen Sicherungsanlagen, Brand- und Warnmelder auf den neuesten Stand gebracht. Die Schätze, die seit den 50er Jahren kontinuierlich gehortet wurden, zeigen sich in ihrer herausragenden Qualität. Zugleich dient die Wiedereröffnung dazu, eine früh verstorbene Künstlerin zu entdecken. Clivia Vorrath, geborene Hennig, war 1947 zwischen Essen und Mülheim geboren, hatte an der Hochschule der Künste in Hamburg bei Gotthard Graubner und Kai Sudeck studiert und 1973 die Produzentengalerie Hamburg mitbegründet.

Seit 1977 arbeitete sie als freie Künstlerin, erhielt ein Arbeitsstipendium der Hansestadt Hamburg, fiel 1982 nach einem Unfall ins Koma, in dem sie sieben Jahre lag, bevor sie 1989 verstarb. Eine schreckliche Vita, die man beim Betrachten ihrer Zeichnungen und Fotos stets im Kopf hat. Ihre Kunst zeugt von ihrer existentiellen Gefährdung. Es handelt sich um sehr persönliche Psychogramme, immer nahe am Abgrund.

Sie griff die Tendenzen der 68er Jahre auf. Ärmliche Bäckertüten, die sie aufklappte und beschrieb, lassen an die Arte Povera denken. Auf den Blättern finden sich Asphaltlack, Zigarettenasche und Kaffeeflecken. Die Benutzung von Bleistift und Deckweiß ist gleichfalls typisch für jenes Jahrzehnt.

Was das Werk über seine Zeit hinaushebt, sind die Obsessionen, die Angst und Bedrängung, die es spiegelt. Körper schweben in Flüssigem, in Schräglage, wie eingelegt in Formalin. Silhouetten sind gesichtslos, wirken wie eingekapselt. Immer wieder werden Figuren in liegender Haltung, wie auf dem Krankenbett, gezeigt. Frauenfiguren tauchen auf, die als Selbstporträts gelesen werden können.

Neben den Zeichnungen überraschen Fotos von Puppen. Sie lassen an Eva Äppli denken, die einstige Weggefährtin von Jean Tinguely. Äppli wurde durch surreale Puppen bekannt, Clivia Vorrath steckt Stoffreste und Fundstücke in Nylonstrümpfe und bedeckt die wurstartigen Gebilde, die die Maße normaler Menschenbeine haben, mit Stoffen und Kleidungsstücken. Zu sehen sind jedoch keine Objekte, sondern die anschließend angefertigten Schwarzweiß-Fotos. Ungeheure Symbole von Einsamkeit und Isoliertheit.

Die Wiederentdeckung dieses Werks geschah durch den Weggefährten von Clivia Vorrath, Gustav Kluge, der mit ihr an der Produzentengalerie in Hamburg tätig war. Die Ausstellung kam noch durch Beate Ermacora zustande, die inzwischen Mülheim verlassen hat.

Ihre Nachfolgerin, Beate Reese, will im nächsten Jahr die herrliche Sammlung des Hauses zeigen und zugleich Gastkünstler einladen. Im übrigen gelte es, "Nischen zu pflegen, beispielsweise experimentelle Arbeiten des Informel zu zeigen". In diesem Jahr widmet sich das Haus den Künstlern Olaf Holzapfel (ab 20.9.) und Heinrich Zille (ab 2.10.). Für 2011 plant Reese eine Schau mit Werken von Werner Gilles anlässlich seines 50. Todestages. Die Retrospektive soll zugleich Freunde wie Werner Heldt in die Erinnerung bringen.