Massive Attack: Zurück zur schleichenden Melancholie
Nach sieben Jahren Funkstille bringen Massive Attack mit „Heligoland“ ein verrücktes, aber ziemlich gutes Album heraus.
Sie gehörten schon immer zusammen, die beiden Komponenten Musik und Stadt. Es gab den Merseybeat (Liverpool), den Motown-Soul (Detroit), den Punk (London), den Post-Punk (Manchester) oder den Grunge (Seattle). Bestimmte Orte haben seit jeher etwas Besonderes an sich. Etwas, das sich in der Musik ihrer Künstler Bahn bricht.
Letztlich ist wohl nur so das Phänomen Trip-Hop zu erklären. Seine Speerspitze bildeten und bilden bis heute Massive Attack. Und die kommen aus dem englischen Bristol. Bristol ist zunächst bekannt für den Popsänger Nick Kershaw. Und natürlich für Paul Potts. Was aber viel wichtiger ist in diesem Zusammenhang, das ist die ethnische Struktur: Bristol hat eine recht große jamaikanische Gemeinde, die nach Aussage des Berliner Ethnologen Thomas Götz rund 2,5Prozent der knapp 416000 Einwohner ausmacht und die der Hafenstadt im Südwesten Englands den Hip-Hop, den Reggae und den Dub brachte.
Das sind die Zutaten, die Massive Attack für ihre Musik benötigten, die in Szenekreisen tatsächlich als "Bristol-Sound" firmiert: Trip-Hop zeichnet sich aus durch seine elektronischen, bis aufs rhythmische Skelett aus Bass und Beat entkernten Arrangements, die irgendwann mal als Reggae-Offbeat entstanden, den Hip-Hop streiften und am Ende durch Wegstreichen von Unnötigem und den Tritt auf die Tempobremse träge, schwerfällig, zäh und stets melancholisch, fast düster daherkommen. Wie ein ausgedehnter Trip(-Hop) eben.
Grant Marshall (Daddy G), Robert Del Naja (3D) und Andrew Vowles (Mushroom) begannen ihre Karriere Mitte der Achtziger als DJ-Konglomerat "Wild Bunch Soundsystem" in den Musikclubs Bristols. 1987 schließlich wurden sie zu Massive Attack.
Das erste Album "Blue Lines" (1991) gilt bis heute als Klassiker des Genres. Wegen der weiblichen Leih-Stimme von Shara Nelson hatte der Longplayer zwar noch einen Funken Soul und huldigte noch klar der Melodie, woran auch der Nachfolger "Protection" (1994) anschloss. Aber spätestens auf "Mezzanine" (1998) mit seinen wüsten E-Gitarren-Samples wurde die Düsternis unverkennbar. Und mit dem letzten regulären Studioalbum "100th Window" war 2003 die Metamorphose endgültig abgeschlossen: Hier türmen sich zum klagenden Gastgesang von Sinead O’Connor die Halleffekte und dicken Bassläufe zu Kathedralenhöhe auf.
Für viele war die Musik zu schwer zu konsumieren. Doch streng genommen war dieser Bristol-Sound nichts anderes als das endgültige, genaue Spiegelbild seiner Stadt, die noch heute schwermütige Erinnerungen an Hunderte im Zweiten Weltkrieg zerbombte Häuser hat und von ihren Einwohnern selbst als nüchtern und desillusioniert beschrieben wird.
Keine Frage also: "100th Window" wurde unterschätzt. Und ein wenig zu Unrecht liefen von Massive Attack beeinflusste Trip-Hop-Größen wie Portishead ihren Impulsgebern seitdem den Rang ab. Vielleicht sorgte gerade das für Verunsicherung bei Del Naja und Daddy G (Mushroom stieg mittlerweile aus): Im Vorfeld der Veröffentlichung ihres neuen Albums "Heligoland" kloppten sie ein schon fertig aufgenommenes Werk mit Gesangsparts illustrer Gäste wie Mike Patton (Faith No More), Tom Waits oder Patti Smith sprichwörtlich in die Tonne, um noch einmal von vorne zu beginnen.
Und entsprechend "verrückt" klingt die Platte denn auch zunächst für Massive-Attack-Verhältnisse: Plötzlich geht es nicht mehr nur um erdrückende elektronische Statements, sondern auch um Instrumente und geschmeidige Melodien. Ein wenig so, als suche die Band noch nach ihrem "neuen, alten" Klang.
Aber: Wer sich reinhört in "Heligoland", der entdeckt letztlich auch diese typischen Zutaten des Bristol-Sounds wieder: Melancholie, Depression und urbane Langeweile ebenso wie jamaikanische Lebensfreude und die Lust am Experimentieren. Und die ist heuer vielleicht so groß wie nie zuvor. Es mag sich als Wortspiel kurios anhören, aber: Wer "Heligoland" hört, der hört Bristol. Der hört eine Stadt, die lebt - und deren Menschen und Künstler leben. Und das ist das Wichtigste.
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