The Cure: Strubbelfrisur und Lippenstift
Punk: Nicht viele Wave-Bands der späten 70er und frühen 80er schafften das Kunststück, als zeitgemäße Musiker überdauern zu können. The Cure schon – wie ihr neues Album beweist.
Düsseldorf. Viele meinen, diese Band sei ein Anachronismus: Der Sänger läuft seit knapp 30 Jahren mit Strubbelfrisur und Lippenstift über die Bühne. Und weil der Großteil ihres musikalischen Oeuvres sowohl von den Arrangements als auch von den Texten her so herrlich traurig klingt, sind The Cure für viele bis heute nicht aus der Subkultur-Schublade der "Gruftis" herausgekommen.
Indes: Letztlich tut jeder, der The Cure für einen solchen Anachronismus hält, der 1976 in England gegründeten Band Unrecht. Denn von den Künstlern ihrer Generation, die heutzutage noch Platten veröffentlichen, sind über die Jahrzehnte hinweg nur wenige so kreativ, experimentierfreudig und wandlungsfähig gewesen. Die Wurzeln der Band lagen im Punk, der 1976 in England mit dem Erfolg der Sex Pistols seinen kurzen, aber umso intensiveren Höhepunkt feierte.
Während die Sex Pistols jedoch durch den Tod ihres Bassisten Sid Vicious und das übermannsgroße Ego von Sänger Johnny Rotten schnell von Aktiven zu Legenden wurden und sich die amerikanischen Hardcore-Bands des Gebildes "Punk" annahmen, entschieden sich The Cure dazu, weiterzumachen und gemeinsam mit Gruppen wie Joy Division den Post-Punk als nächste musikalische Entwicklungsstufe in die Welt zu setzen. 1979 erschien mit "Three Imaginary Boys" das Debütalbum, das denn auch noch stark geprägt ist vom damaligen Zeitgeist: Die Songs sind rohe, metallisch scheppernde und von verzerrten Gitarren geprägte Gebilde.
Sie sollten nur eine vorübergehende Signifikanz für The Cures Identität besitzen. In den folgenden fünf Jahren nämlich - in denen bis heute Kultstatus genießende Singles wie "A Forest", "Charlotte Sometimes" oder "Primary" veröffentlicht wurden - legte die Band den Grundstein für ihr erwähntes "Grufti"-Image: Die Texte wurden zur Seelenschau. Die Musik setzte sich jetzt zusammen aus Keyboard-Teppichen, trägen Bassläufen und durch unzählige Effektgeräte gejagte Gitarren. Der dunkle Wave hatte sich Bahn gebrochen - und machte mit dem ersten "großen" Album der Bandgeschichte - "The Head On The Door" (1985) - dem Pop ein Stück weit Platz.
"In Between Days" oder "Close To Me" zeigten eine komplett neue Seite von The Cure: Plötzlich konnten die Songs der Truppe im Radio gespielt werden. Die Vielfalt war angesagt - und gipfelte 1987 in der Doppel-LP "Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me", einer atemlosen Hatz durch brutal kreischende, das Herz zerreißende Lieder ("The Kiss"), grandiose Popnummern ("Just Like Heaven"), übermütige, mit Funkgitarren und Bläsersätzen durchwirkte Songs ("Hot Hot Hot", "Why Can’t I Be You?") und in musikalischen wie lyrischen Abgründen vor sich wabernde Stücke ("The Snakepit").
Eine einzigartige Werkschau, die nur zwei Jahre später mit "Disintegration" einen ebenbürtigen, nicht minder epischen, aber auch wieder wesentlich melancholischeren Nachfolger fand. Auf "Wish" (1992) hingegen mündete die Musik plötzlich dezent im Rock. Die bis heute erfolgreichste Cure-Single aller Zeiten, "Friday I’m In Love", ließ die Band endgültig in ausverkauften Stadien spielen. Und weil ihr Output mit "Bloodflowers" (2000) und "The Cure" (2004) auch im neuen Jahrtausend nicht abriss, zählen The Cure mittlerweile zu jener Kategorie Bands, die nunmehr von jüngeren Künstlern (The Killers, Interpol) als wichtiger Einfluss genannt werden.
Mehr noch: Nach dem Durchlaufen der ganzen Palette aus Post-Punk, Wave, Pop, Rock und wieder zurück haben The Cure gar das geschafft, was große Bands auszeichnet: Sie werden von allen geliebt und geachtet. Das Mainstream-Publikum kommt ohne die vielen zeitlosen Popsingles nicht mehr aus. Und Fans weiden sich an dem weniger eingänglichen, aber musikalisch umso intensiveren Stil-Mix, der auch das neue Album dominiert.
Aber deswegen ist "4:13 Dream" noch lange kein Anachronismus. Es ist auch nicht das Spätwerk einer "Grufti"-Legende. "4:13 Dream" ist vielmehr ein Album für Musik-Freaks. Und es ist ein Album für Fans. Es zeigt: Strubbelfrisur und Lippenstift sind noch da. Aber auch die Leidenschaft und Genialität von The Cure.
Kurzkritik
Natürlich kommen auch Dinosaurier der Szene wie The Cure irgendwann einmal in der Moderne an: "4.13 Dream" wurde vor zwei Wochen unter dem Logo eines großen Musiksenders per Internet-Konzert präsentiert. Die ersten vier Singles konnten seit dem Sommer nacheinander wahlweise im Netz heruntergeladen oder, für echte Liebhaber, als Silberling im Laden gekauft werden. Und doch ist "4.13. Dream" ein gänzlich "klassisches" Album: weil man es am besten per Kopfhörer hört. Und weil man sich seine Schönheiten aufgrund der Vielfältigkeit in mehreren Lauschrunden "erarbeiten" muss. Es gibt keinen zwingenden Ohrwurm. Dafür aber spielt sich die Band erstmals seit "Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me" von 1987 wieder durch alle musikalischen Elemente, die je ihren Sound ausmachten, experimentiert mit den Klängen und lässt die Platte nach melancholischem Wave ("Underneath The Stars") Pop ("Freakshow") und Rock ("The Real Snow White") schließlich in die wütenden Stücke "The Scream" und "It’s Over" münden. Das ist am Anfang recht gewöhnungsbedürftig - wie schon 1987. Das ist am Ende aber auch ziemlich umwerfend - wie schon 1987.