Kommentar Nach Lockdown in Gütersloh - Alltag Abwägung in der NRW-Politik
Meinung · Gesundheitsschutz von Bürgern und der Eingriff in die Grundrechte von Menschen: was Jener höher und der Andere niedriger bewertet, dieser offenkundig tägliche Gegensatz taugt inzwischen leider längst für die nächste Spaltung der Gesellschaft.
Die Deutung eines Oberverwaltungsgericht-Urteils beschäftigt derzeit die aufgeregte NRW-Politik. Die Frage: Wer hat wie wann zu früh oder zu spät gelockert oder geschlossen? Für die SPD-Fraktion im NRW-Landtag kam der „Lockdown“ in Gütersloh nach dem Tönnies-Desaster wie auch die Öffnung, die jetzt per Gericht angeordnet wurde, zu spät. Die Regierung sieht sich hingegen fehlerlos: Das Gericht habe nur das bestätigt, was tags darauf ohnehin geschehen wäre. Es geht um Detailpolitik, die auf schmalem Grat wandelt zwischen Gesundheitsschutz von Bürgern und dem Eingriff in die Grundrechte von Menschen.
Was Jener höher und der Andere niedriger bewertet, dieser offenkundig tägliche Gegensatz taugt inzwischen leider längst für die nächste Spaltung der Gesellschaft. Das zeigt: Es ist eine wichtige Abwägung, die nun Tag für Tag stattfindet und immer mehr von der Erkenntnis geprägt ist, notwendig, weil eben längst möglich zu sein: Das Infektionsgeschehen ist weit weniger aggressiv und unabänderlich, als man das befürchten musste. Es lässt sich mit gezielten Maßnahmen eindämmen, es ist mit Vorsicht, aber auch großer Flexibilität zu handhaben. Und: Damit lässt sich die oft zitierte „neue Normalität“ leben, mit der wir umgehen müssen – und mit der sich so Schaden abwenden ließe.
Was mit dieser Abwägung aber auch einhergeht, ist ein gewaltiges Risiko für den NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet, der bald womöglich deutscher Kanzler werden will. Denn sie ist fern von politischer Klarheit, sie lässt bewusst Raum für Ängste und wendet sich als vermeintliches Zaudern ab vom Anspruch, mit populär klarer Haltung voranzugehen, koste es, was es wolle. Fraglich, ob diese Linie am Ende politisch erfolgreich sein kann. Aber das entscheidende Bemessungskriterium – so viel Einigkeit muss her – darf die Antwort darauf nicht sein.