Michas Klasse: Latin und die Angst um seinen Cousin

Der Kurde ist in Deutschland geboren. Aber seine Familie stammt aus dem Nordirak — und zittert täglich um ihre Verwandten dort.

Foto: Doro Siewert

Burscheid. „In Europa“, sagt Sami Salem (37), „informieren sich die Leute über die Krisen der Welt im Fernsehen. Und wenn sie ausschalten, ist der Krieg für sie vorbei.“ Für den Vater von Latin (8) gilt das nicht. Vor 14 Jahren ist der Kurde aus dem Nordirak nach Deutschland gekommen, weil seine große Familie die 10 000 US-Dollar zusammengetragen hat, die nötig waren, um wenigstens einen der ihren aus dem Land schleusen und in Sicherheit bringen zu lassen. Aber die Eltern, vier Brüder, zwei Schwestern und viele andere Verwandte leben immer noch dort.

„Wir rufen jeden Tag an“, sagt Salems Frau Wian (29). „Unsere Verwandten sagen dann immer, dass es ihnen gut geht und sie in Sicherheit sind, damit wir keine Angst haben.“ Aber sie weiß, dass das nicht stimmt. Sie weiß, dass ihre Familien immer wieder aus den Häusern auf das Feld fliehen und dort schlafen; dass ständig einer Wache hält, wenn die anderen versuchen, Ruhe zu finden.

Bis vor drei Wochen hat Wian Salem geradezu zwanghaft im Internet alles verfolgt, was aus der Kriegsregion an Informationen zu bekommen war — und an Horrorbildern. Irgendwann hat Latin geklagt: „Du sitzt nur noch am Computer und hörst mir gar nicht mehr zu.“ Da hat sie ihren Sohn zur Seite genommen und erzählt, was sie bedrückt. Seither sorgt sich Latin um seinen Cousin Senar, mit dem er vor drei Jahren bei einem Besuch im Irak noch so schön spielen konnte. Inzwischen nimmt seine Mutter Abstand von den Bildern, „damit ich wieder gut auf meine Kinder aufpassen kann“.

Latin und seine Familie gehören der kleinen Religionsgemeinschaft der Jesiden an, deren Verfolgung eine lange Geschichte hat. Erst jetzt dringt ihr Leid ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit, „aber wir haben im Irak keinen einzigen guten Tag gesehen“, sagt Latins Vater rückblickend auf seine Kindheit und Jugend. Sein Heimatdorf liegt wie das Nachbardorf seiner Frau zwar im noch von der kurdischen Peschmerga kontrollierten Teil im Nordirak. Aber auch dort können nachts Bomben einschlagen „und niemand kann sagen, woher sie kommen“.

Das Dorf von Sami Salem hatte ursprünglich 11 000 Einwohner, die meisten von ihnen Bauern. Jetzt müssen die Menschen dort mit 30 000 zusätzlichen Flüchtlingen zurechtkommen. In einer Region, in der es tagsüber brütend heiß und nachts eiskalt ist. Die Jesiden in Deutschland versuchen zu helfen, wo sie können. Schon mehrfach wurden Spendenlieferungen auf den Weg gebracht. Ein Lagerraum in Köln ist wieder mit Hilfsgütern gefüllt. Aber noch fehlen die 6000 Euro für den Transport.

Sami Salem verdient sein Geld inzwischen als Taxifahrer. Eine Ausbildung hat er unter den schwierigen Lebensumständen im Irak nie machen können. Seine Frau hat die Schule dort schon nach vier Jahren wieder verlassen müssen. Heute sagt die 29-Jährige: „Andere Frauen in meinem Alter sind Ärztinnen geworden oder Wissenschaftlerinnen. Das macht mich traurig.“

Auch darum sei sie so glücklich, inzwischen in Deutschland zu leben, wo ihre Kinder eine gute Schulausbildung absolvieren können „und etwas verstehen von der Welt“. Vor zwei Jahren hat die Familie die Einbürgerung beantragt und auch bewilligt bekommen. Latin und seine Geschwister sind in Deutschland geboren, in Sicherheit.

Und seine Familie hofft und bangt, dass noch möglichst viele Verwandte diese Sicherheit auch erreichen. Über das Ausländeramt versuchen sie, Einladungen auszusprechen. Denn dass die Verfolgung in der Heimat eines Tages ein Ende finden könnte, glaubt niemand mehr. „Die Jesiden haben dort eigene Häuser und eigenes Land. Aber alle wollen weg.“