Religion: Kirche live und nach Drehbuch
Der Gottesdienst der Evangelischen Kirchengemeinde Burscheid wurde gestern im Radio übertragen – fast das ganze Land konnte zuhören.
Burscheid. Noch sind es rund zehn Minuten, bevor das Rotlicht am Mikrofon an und Burscheid auf Sendung geht. "Fangen sie schon mal an, breit zu lächeln", fordert Kerstin Hanke die Gottesdienstbesucher auf. Für viele klingt das komisch. Das kann man im Radio doch nicht sehen. Oder doch? "Ein Lächeln kann man auch im Radio hören. Wir wollen doch das Gefühl einer freundlichen und gut gelaunten Gemeinde vermitteln", erklärt die evangelische Rundfunkbeauftragte des WDR.
Damit in der Sendung auch die Töne getroffen werden, stimmt Kantorin Silke Hamburger die Gemeinde mit der Stimmgabel ein. Warmsingen für den Ernstfall. Um drei Minuten vor zehn dürfen alle noch mal husten, in der Tasche kramen oder sich mit dem Sitznachbarn austauschen. Ein letztes Mal durchatmen, dann heißt es auch für Pfarrerin Annerose Frickenschmidt: Augen zu und durch.
Für 60 Minuten steht der Gottesdienst aus Burscheid in weiten Teilen der Republik im sonntagmorgendlichen Mittelpunkt mehrerer hunderttausend Hörer. Denn neben WDR 5 sind auch der NDR und der RBB angeschlossen. Und somit ist der Gottesdienst aus Burscheid auch am Frühstückstisch an der Alster oder an der Spree zu hören.
Um Punkt zehn geht in der Kirche am Marktplatz die rote Lampe an. Die Leitung vom Altar bis in den Ü-Wagen, der im Hof parkt und fast den gesamten Platz einnimmt, steht. Lange Kabel sorgen für den richtigen Ton.
Um Punkt 10 Uhr tritt Kerstin Hanke ans Mikrofon. Sie erklärt den Hörern, woher der Gottesdienst an diesem Morgen kommt, sagt etwas zur Gemeinde, der Kirche und den typisch grünen Fensterläden in der Kleinstadt im Bergischen Land. Drei Minuten später erklingt das erste Mal die große Orgel, dann ist Pfarrerin Frickenschmidt an der Reihe: "Wir feiern den Gottesdienst im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes - Amen."
Fortan hängt das Schicksal vom Gelingen des Gottesdienstes am vorher festgelegten Drehbuch. Sekundengenau ist hierin festgehalten, wann welches Lied gesungen wird und wann die Predigt beginnt. Denn um Punkt 11Uhr muss Schluss sein, weil sich spätestens dann die Funkhäuser ausklinken. Gar nicht so einfach für die Protagonisten. "Normalerweise ist die Gemeinde der direkte Ansprechpartner für uns", erklärt Kantorin Silke Hamburger.
Gerade bei der Predigt sehe der Pfarrer, ob er mit seiner Botschaft ankommt. Natürlich kostet eine derartige Kommunikation etwas Zeit. Und die hatte in der Live-Sendung gestern niemand. Geprobt wurde übrigens am Tag zuvor. Mit Gemeinde, mit Kantorei, aber natürlich noch ohne die vielen Zuhörer vor den Empfangsgeräten.
Während Annerose Frickenschmidt um 10.32 Uhr auf der Kanzel steht und mit ihrer Predigt beginnt, hält Kerstin Hanke Blickkontakt - zur Pfarrerin und zur Stoppuhr neben ihr auf der Bank. Ein kurzes Nicken, alles im Zeitrahmen. Die Predigt kann beginnen. Ob ihr bewusst ist, wie viele Menschen ihren Worten gelauscht haben?
Übermäßige Nervosität ist aus der Ferne jedenfalls nicht zu erkennen, die Stimme ist klar und die Worte zur Schöpfungsgeschichte sind einprägsam. Um 10.55 Uhr und fünf Sekunden hebt Frickenschmidt die Arme und segnet die Gemeinde. Das Orgelnachspiel, "Allegro aus der Fantasie f-Moll" von Mozart beginnt. Um 11 Uhr und ein paar Sekunden ist es geschafft. 64 Drehbuch-Schritte sind abgearbeitet. Ohne Fauxpas.
Hanke ist zufrieden. "Die Leute hören den Gottesdienst beim Frühstück oder beim Autofahren. Da ist es wichtig, einen intuitiven Zugang zu finden." Deswegen sei es für die Auswahl der Live-Gemeinde wichtig, neben einem "anständigen Prediger" auch "ausgezeichnete Kirchenmusik" zu bieten. Das habe man in Burscheid vorgefunden. "Wir wollen den Gottesdienst authentisch und schön gestalten." Das dürften die Hörer in Hamburg oder Berlin auch so empfunden haben.