Herr Lindner, war das hitzige Plenum Ende der Woche ein taktisch schlecht vorbereitetes Manöver von Friedrich Merz oder ein Startschuss, den jemand geben musste für eine zu verändernde Migrationspolitik?
Interview Christian Lindner: Keine Regierung mehr mit den Grünen
Mönchengladbach · FDP-Chef Christian Lindner über die Konsequenzen des jüngsten Migrationsstreits, Fehler von Friedrich Merz und Zuversicht für den Wahltag.
Christian Lindner hetzt von Termin zu Termin. Es ist Wahlkampf. An diesem Samstag zuerst in Köln, dann in Mönchengladbach-Rheydt. Hier treffen wir den FDP-Parteichef am Nachmittag zum Interview im Nebenraum des Theaters.
Christian Lindner: Es ist doch vollkommen unstrittig, dass es eine neue Migrationspolitik geben muss. Deutschland muss weltoffen bleiben, aber dafür müssen Kontrolle und Sicherheit gewährleistet sein. Gegenüber der Politik von Frau Merkel hat sich schon manches getan, aber einiges fehlt noch. Insbesondere die Grünen sperren sich, weil sie ja sogar noch mehr Familiennachzug wollen. Deshalb hätte ich Friedrich Merz nicht geraten, vor der Bundestagswahl den Showdown zu suchen. Die FDP hat am Freitag nochmals versucht, eine Mehrheit in der Mitte des Parlaments zu finden.
Ein bisschen spät, oder?
Lindner: Wir waren ja nicht der Antragsteller. Der Versuch war vergeblich. Obwohl der Gesetzentwurf absolut richtig ist, unseren langjährigen FDP-Positionen und auch denen der Ministerpräsidentenkonferenz entspricht, waren insbesondere die Grünen nicht bereit zu einer gemeinsamen Beschlussfassung. Nach meinem Eindruck hätte es eine Mehrheit von Union, SPD und FDP gegeben.
Haben Sie diese Debatte als würdig empfunden?
Lindner: Ich finde es verstörend, wenn die Parteien des demokratischen Zentrums sich in dieser Weise auseinanderdividieren. Das stärkt nur die AfD. Die Menschen erwarten eine andere Wirtschaftspolitik. Sie erwarten wieder Kontrolle bei der Einwanderung, die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und dass ihre Freiheit respektiert wird. Leider muss ich sagen, dass bei allen diesen Fragen die Verweigerung der Grünen die AfD stärkt. Wir werden die AfD nur wieder kleiner machen, wenn man die Probleme klein macht, die die AfD groß gemacht haben.
Am Ende hatten Sie die Fraktion nicht geschlossen hinter sich. Sind Sie geschwächt?
Lindner: Unsere Position in der Sache ist klar. Wir wollen eine andere Einwanderungspolitik, weil nur dann die Weltoffenheit und Vielfalt unseres Landes erhalten bleiben werden. Das Problem war das Verfahren. Hier ist ja auch die Union gespalten. So haben CDU-geführte Länder gesagt, sie würden einen Gesetzentwurf, der mit AfD-Stimmen zustande kommt, im Bundesrat nicht unterstützen. Für einige unserer Kolleginnen und Kollegen war es daher auch eine Gewissensfrage, keinem Gesetz zur Mehrheit zu verhelfen, wenn es nur mit der AfD angenommen wird.
Für Sie selbst grundsätzlich nicht?
Lindner: Anträge der AfD unterstütze ich nicht, weil man mittelbar damit deren Ideologie akzeptiert. Es ist für mich aber kein Problem, einen Antrag einer demokratischen Fraktion zu unterstützen.
Hat Friedrich Merz mit der Initiative sein Wort gebrochen?
Lindner: So sagen es Rot-Grün und wohl auch Frau Merkel. Das müssen die Bürger beurteilen. Herr Merz hat damit Rot-Grün jedenfalls ein Thema gegeben, mit dem das linke Spektrum mobilisiert wird. SPD und Grüne führen jetzt nur zu gerne eine Brandmauer-Debatte, um von der eigenen Konzeptlosigkeit angesichts der Wirtschaftskrise und des Unwillens zum Umsteuern bei der Migration abzulenken. Da machen wir nicht mit. Die FDP will die Wirtschaftswende und eine liberale Einwanderungspolitik, also regelbasiert und nicht ungeordnet. Mit der Ampel und den jetzt wechselnden Mehrheiten ist das nicht erreichbar. Meine Ambition und Hoffnung ist, dass es im nächsten Bundestag gelingt. Denn Gnade uns Gott, wenn sich das vier Jahre in dieser Weise wiederholt, weil zum Beispiel Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot sich gegenseitig blockieren, die Wirtschaft schrumpft und das Sicherheitsgefühl der Menschen weiter schwindet. Im schlimmsten Fall stünde dieser Politik die AfD als einzige Opposition gegenüber, wäre die FDP nicht im Bundestag.
Ist Migration nicht ein Feld, das über Koalitionen hinweg in Angriff genommen werden müsste?
Lindner: Ja, aber das scheitert an den Grünen. Meine Analyse ist, dass die SPD auch zu sehr viel mehr Schritten bereit ist. Die Grünen blockieren. Solange sie Teil der Mehrheitsbildung im Bundestag sind, werden bestimmte Maßnahmen nicht umgesetzt. Die Grünen finanzieren Seenotrettung im Mittelmeer, die die Schlepperkriminalität stützt. Sie wollen den Familiennachzug ausweiten statt aussetzen. Sie verhindern Drittstaatenverfahren beim europäischen Asylrecht. Ich könnte die Liste fortsetzen. Deshalb werden wir als FDP in keine Regierung gemeinsam mit den Grünen eintreten.
Das ist eine neue Position. Also wieder kein Jamaika.
Lindner: Wieder kein Jamaika. Sobald die FDP im Bundestag ist, ist Schwarz-Grün rechnerisch so gut wie ausgeschlossen. Wenn es für Schwarz-Gelb nicht reicht, dann ist die wahrscheinlichste Regierungsmehrheit eine Deutschlandkoalition. Das wäre immerhin besser als Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün.
Dafür müsste die FDP selbst aber im Bundestag sein. Sie stehen bei vier Prozent. Für wie sicher halten Sie das?
Lindner: Die FDP wird im nächsten Bundestag vertreten sein.
Wie können Sie sicher sein?
Lindner: Der Zulauf zu unseren Veranstaltungen zeigt mir das.
Kämpfen Sie nach dem Ende der Ampel auch um Ihre Glaubwürdigkeit, Herr Lindner?
Lindner: Ich habe ein höchstes Staatsamt für politische Überzeugungen aufgegeben. Das macht nur, wer es ernst meint. Deshalb werde ich von Bürgerinnen und Bürgern nie auf sowas angesprochen.
Aber von nervigen Journalisten.
Lindner: Kritische Fragen sind ihr Auftrag. Aber die kritischen Fragen, die die Bürger stellen, sind andere: Warum kam das Ampel-Aus so spät? Und warum haben Sie das nicht viel lauter in die Luft gesprengt? Tatsächlich hätte man im November 2023 schon anders agieren müssen, nachdem es dieses Haushaltsurteil zu Scholz‘ Buchungstrick gegeben hatte. Aber am Ende ist die historische Wahrheit, dass die FDP eine Wirtschaftswende wollte und wir uns nicht neuerlich verfassungswidrigen Schulden von Herrn Scholz unterwerfen ließen. Dafür haben wir auf hohe Ämter verzichtet.
Sie hatten uns vor der letzten Wahl gesagt: Die FDP-Wähler wollen keine Ampel.
Lindner: Ja. Die Ampel ist für die FDP tatsächlich eine unglaubliche Belastung geworden und ist es jetzt noch. Wir haben aber jeden Tag gekämpft für unsere Werte: Eigenverantwortung, Freiheit, Steuerentlastungen, Schuldenbremse und Marktwirtschaft.
Aber ein steter Kampf in der Regierung ist vielleicht das größte Problem der Ampel gewesen.
Lindner: Das ist das doppelte Dilemma. Die Leute sagen: Ihr habt da nur gestritten. Gleichzeitig beklagen sie, dass wir zu wenig unsere Interessen durchgesetzt hätten. Dabei waren die Ergebnisse in der Sache nicht schlecht: Dreimal Steuern gesenkt, Rekordinvestitionen, Vernachlässigung der Bundeswehr beendet, Milliarden Euro für Startchancen in den Schulen. Zur Wahrheit gehört auch, dass viele unserer Unterstützer die Ampel politisch nicht gewollt haben mit zwei linken Parteien und der FDP. Aber es gab 2021 keine andere Option, weil die Union unter Armin Laschet nicht mehr regierungsbereit war. Die wollten schlicht Laschet nicht mit uns zum Kanzler wählen. Ansonsten wäre Jamaika damals drin gewesen.
Ist künftig für Sie die Opposition eine Option?
Lindner: Sicher ist das denkbar. Eine Deutschlandkoalition ist möglich und wäre nötig, wenn es denn zu Schwarz-Gelb nicht reichte. Aber im Zweifel ist es auch besser, dass nicht nur die AfD gegen Schwarz-Rot Politik macht, sondern dass es auch eine liberale Partei der Mitte als Gegengewicht gibt.
Wie ist das Verhältnis zur Union?
Lindner: Sehr gut.
Sie müssen aber auch der Union noch Wähler abspenstig machen.
Lindner: Die Union macht einen Wahlkampf für sich. Auch wir kämpfen für uns. Es ist die paradoxe Situation, dass es einen Lagerwahlkampf gibt – Schwarz-Gelb gegen Rot-Grün. Aber innerhalb der Lager gibt es auch einen harten Wettbewerb. Dadurch bleiben alle unter ihren Möglichkeiten. Denn wenn Union und FDP gemeinsam auf das Ziel Schwarz-Gelb steuern würden, dann könnten wir der AfD sicherlich noch mehr Prozentpunkte abnehmen als jetzt. So beschäftigen sich Union und FDP doch relativ viel miteinander, statt mit der eigentlichen Herausforderung, die AfD klein zu machen.
Die Wirtschaft war eigentlich das Topthema dieses Wahlkampfs.
Lindner: Sie ist es immer noch. Wir haben fast drei Millionen Arbeitslose, davon eine Million Langzeitarbeitslose, und kein Wirtschaftswachstum. Wir werden weltweit als Abstiegskandidat wahrgenommen. Das muss gewendet werden. Denn wenn die Leute feststellen, dass ihr Lebensstandard abrutscht, haben wir den nächsten Treiber von Polarisierung an den Rändern.
Wie wollen Sie das schnell ändern?
Lindner: Wir können uns von Bürokratismus und Regulierung trennen, also von Forschungsverboten bei der Stammzelle bis zum Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz an vielen Stellen entschlacken. Datenschutz muss effizienter werden. Die Steuern müssen runter, von der Überstunde über die Gehaltserhöhung bis zum Solidaritätszuschlag. Außerdem brauchen wir einen Klimaschutz und eine Energiepolitik, die wieder unseren ökonomischen Interessen dient, statt ihnen zu schaden. Das passiert nämlich gegenwärtig. Und wir müssen den Menschen einen Anreiz geben, wirtschaftlich vorankommen zu wollen. Dann wird auch der wirtschaftliche Wiederaufstieg gelingen. Wir haben im Grunde alle Möglichkeiten, aber wir machen nichts daraus. Wir stehen uns selber im Weg. Und das macht mich wahnsinnig.
Verliert Deutschland echte Substanz?
Lindner: Ja. Man dachte vor über 20 Jahren, Deutschland sei der kranke Mann Europas, wie der Economist damals geschrieben hat. Das konnte durch Reformen korrigiert werden. Die Financial Times hat nun geschrieben, die Lage sei inzwischen ungleich dramatischer. Wenn alle Schlüsselindustrien Deutschlands gleichzeitig in der Krise sind, sei das ein Indiz dafür, dass das deutsche Geschäftsmodell zerbrochen sei. Wir erleben eine große Deindustrialisierung. Und wir haben den schleichenden Substanzverlust im Mittelstand und im Handwerk. Die Wirtschaftswende, sie ist dringlich.
Was ist Deutschlands nächste Schlüsselindustrie?
Lindner: Als liberal und marktwirtschaftlich Denkender kann ich das nicht sagen. Den nächsten technologischen Durchbruch kann man nicht vorhersehen. Und auch das Turnaround-Potenzial bestehender Schlüsselindustrien kann man nicht von außen abschätzen. Ich bin überzeugt, dass alle unsere Schlüsselindustrien eine Chance haben, inklusive sogar des Stahls. In dem Punkt unterscheide ich mich von Friedrich Merz. Wir müssen nur einen anderen Pfad entwickeln. Es braucht echte Strukturreformen. Allein mit staatlichen Subventionen und Vorgaben für komplett grünen Stahl wird es nicht gelingen.
Dafür sind ja an Thyssen reichhaltig Subventionen geflossen.
Lindner: Ja, so ist es. Zwei Milliarden, von Land und Bund jeweils eine – und es hat nichts gebracht.
Sie haben das Geld als Finanzminister selbst überwiesen.
Lindner: Ich will daraus lernen – Habeck weitermachen wie bisher. Ich bin himmelfroh, dass das bei Intel nicht auch gemacht werden musste. Stattdessen glaube ich, dass wir bessere Rahmenbedingungen für alle schaffen müssen.
Wer profitiert von den steuerlichen Entlastungen, die Sie im Wahlprogramm planen?
Lindner: Alle. Prozentual profitieren am stärksten diejenigen mit der geringsten Steuerlast, also die Geringverdiener. Nehmen Sie die von uns geplante Erhöhung des Grundfreibetrags um mindestens 1000 Euro. Das bedeutet 1000 Euro zusätzliches Jahreseinkommen, auf die man überhaupt keine Steuern zahlt. Dadurch wären also viele Menschen mit einem noch geringeren Einkommen plötzlich überhaupt nicht mehr steuerpflichtig.