Weihnachten Das Christkind kam über den Balkon
Dass Weihnachten das Fest der Liebe und der Familie sein soll, war mir als Kind völlig egal. Ja klar, schon schön dass Oma und Opa mal wieder da waren und vielleicht sogar beide Omas und beide Opas, und alle – also auch meine Eltern und ich – so nett zusammensaßen.
Aber in Wahrheit ging es mir um was anderes: die Geschenke!
Ehrlich gesagt erinnere ich mich kaum an die Heiligen Abende meiner frühen Kindheit. Das Betrachten der alten Fotos bringt mich da auch nicht weiter. Es ist ja vielmehr kaum zu fassen, wie man mal ausgesehen haben soll, und es lässt mich wie den deutschen Filmkritiker und Soziologen Siegfried Kracauer (1889-1966) in Anbetracht alter Fotografien eher gruseln, wie unwiederbringlich die Zeit tatsächlich ist. Erinnerungen werden da in mir eindeutig nicht geweckt, im wahrsten Sinne des Wortes bildet man sich ja genau das beim Betrachten der alten Aufnahmen oft nur ein.
Doch es gibt ein inneres Bild, das überdauert hat. Die geschlossene Wohnzimmertür. Die habe ich noch ziemlich gut im Kopf. Dunkelbraunes Holz, mit Milchglasscheibe in der Mitte. Sie steht für die Hochspannung, die Weihnachten als Kind in mir ausgelöst hat, und es ist vor allem dieses innere Gefühl, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Diese Tür hielt nämlich einen fantastischen Vorgang verborgen. Ich malte mir en détail aus, wie das Christkind (natürlich nicht der Weihnachtsmann) sich über unseren Balkon Zugang zum Wohnzimmer verschaffte und dort am Weihnachtsbaum die Geschenke platzierte. Und es hatte für mich etwas von einer kleinen Offenbarung, wenn ich die Tür nach langatmigem Kirchenbesuch und dem erlösenden Klingeln meiner Mutter mit einem kleinen, goldenen Tischglöckchen öffnen durfte.
Dieser Moment des Öffnens eines für eine Millisekunde noch schier unendlichen Möglichkeitsraums wiederholte sich dann beim Auspacken jedes einzelnen Geschenks. Und so wie die geschlossene Tür habe ich vor allem einen rauschhaften Zustand im Kopf: Ich muss etwa vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Meine Eltern hatten mir eine Eisenbahn geschenkt und jedes einzelne Gleis extra verpackt. Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht mehr, bis ich diese Bilder von mir jetzt noch einmal sah, dass es eine Eisenbahn war – ich erinnere mich vor allem an das Auspacken von immer noch mehr Paketen.
Bei aller berechtigten Kritik am Konsumwahnsinn vor Weihnachten: Die Eisenbahn war gebraucht und einst das Kinder-Spielzeug meines Groß-Onkels. Zudem ist das Geschenk in anachronistischer Weise ja gerade nicht unmittelbar verfügbar. Es gilt, sich in Geduld zu üben – bis zum 24. Dezember, bis die Wohnzimmertür geöffnet werden darf, bis zur Bescherung, bis das Papier entfernt ist. Und das Geschenk selbst macht zudem aus, dass ausnahmsweise mal keine Gegenleistung erwartet wird, es ist kostenlos, nur dazu da, einem anderen eine Freude zu bereiten. Deshalb gehört es für mich auch noch mit 45 Jahren zum Fest der Liebe und Familie dazu.
Meine Eltern schlugen in diesem Jahr übrigens vor, das mit den Geschenken für die Erwachsenen doch mal sein zu lassen. Ich habe heftig protestiert!