Stadt-Teilchen Man weiß immer noch viel zu wenig über den Rosenkohl
Düsseldorf · Worüber Menschen so sprechen, denen ich auf der Straße zuhöre. Zum Beispiel über Rosenkohl.
Es gibt Tage, an denen gehe ich Schmetterlinge fangen. Also keine richtigen Schmetterlinge, sondern frei herumflatternde Wortgebilde, die meinen Weg kreuzen. Ich nutze auch kein Schmetterlingsnetz, ich habe ja zwei Ohren. Recht ansehnliche sogar. Sie stehen ein bisschen ab, weshalb ich auf dem Schulhof oft gehänselt wurde, und wenn ich mit dem Rücken zu einer strahlenden Lichtquelle stehe, dann leuchten sie wie zwei geblähte Segel. Spricht man mich darauf an, dehnt sich das Rot der Ohren auf mein Gesicht aus, was wahrscheinlich durch die Erweckung der kindlichen Traumatisierung zu erklären ist. Was war ich froh, als die Beatles das mit den langen Haaren vormachten und ich nach langen Kämpfen auch meine Segelohren im Haargebüsch verstecken konnte. Heute ist da nichts mehr, was meine seitlichen Landeklappen kaschieren könnte, aber mit den Jahren habe ich gelernt, damit klarzukommen. Glücklicherweise wächst ja die Persönlichkeit des Mannes in genau dem Maße, in dem seine Haarpracht schwindet. Jedenfalls bei mir.
Aber eigentlich wollte ich ja nicht von mir reden, sondern vielmehr von dem, was meine Ohren so einfangen, wenn ich auf die Pirsch gehe. Ich wandele dann gemächlichen Schrittes durch die Straßen und tue so, als hätte ich viel Zeit und würde mich für alles und nichts interessieren. In Wahrheit interessiere ich mich aber nur für das, was meine Mitmenschen so sagen. Das fange ich ein und stelle es in den Mittelpunkt meiner Fantasien. Aus kleinen, beinahe achtlos herbei geflatterten Wortgirlanden fertige ich große Geschichten, die in den meisten Fällen sicherlich nichts mehr mit dem zu tun haben, was die Sprechenden meinten. Aber was scheren mich die Passanten. Sie sind nur Futter für meine Fantasie.
Neulich schnappte ich auf der Burghofstraße einen tollen Satz auf. Ein junger Mann, schlank, schick und natürlich bebartet, hat den Satz gesagt, der mir als geistige Sprungschanze diente. „Es ist genetisch bedingt, ob du Rosenkohl magst oder nicht“, sagte er, was mich prompt zu der Frage führte, ob der junge Mann wohl Rosenkohl mag oder nicht. Ich blickte ihm nach und dachte, dass er möglicherweise ein Rosenkohltrauma in sich trägt, dass er als Kind immer Rosenkohl essen musste, obwohl er nichts mehr hasste als Rosenkohl. Jahrelang hatte er gelitten unter Rosenkohl, und jetzt, da er ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist, hat er sich endlich emanzipiert, hat sein Rosenkohltrauma abgestreift und kann nun erklären, wo es herkam, wie er es überwand und wie er heute damit umgeht.
Ich fragte mich, wie man jemanden nennt, der eine Angst hat vor Rosenkohl. Rosenkohliker vielleicht? Oder verhält sich alles gleich andersherum? Mag der junge Mann Rosenkohl über alles? Ist er vielleicht ein Missionar im Auftrag der Rosenkohlliga, die wirbt für vermehrten Konsum des edlen Gemüses, das gerade Saison hat? Leistete er in dem Moment, da ich ihn traf, möglicherweise gerade Überzeugungsarbeit bei seinem Kumpel? Erklärte er ihm gerade, dass man Rosenkohl auch Brüsseler Kohl nennt und in Österreich Sprossenkohl?
Ich weiß es nicht, und ich werde es auch nie erfahren, denn es ist kaum anzunehmen, dass der junge Mann zur Kenntnis nimmt, was ich hier erzähle. Dafür ist er viel zu beschäftigt. Er hat zu tun. Für oder gegen den Rosenkohl. Da bleibt keine Zeit, den Fantasien eines Segelohrträgers allzu viel Raum zu geben. Sollte es ihm aber zugetragen werden, weil in seiner Umgebung inzwischen jeder weiß, welches Verhältnis er zum Rosenkohl pflegt, dann wäre ich dankbar für einen Hinweis. Ich möchte halt gerne wissen, wie weit sich meine Fantasie von der Realität wegbewegt hat oder ob ich eventuell mit meiner Fantasie genau ins Schwarze getroffen habe.
Außerdem habe ich anlässlich dieser Fantasie mein eigenes Verhältnis zum Rosenkohl überprüft. Eigentlich mag ich Rosenkohl ja ganz gerne, wenn er denn korrekt zubereitet wurde. Leider habe ich zu oft erleiden müssen, dass es die Köche nicht so ernst nahmen mit der ordnungsgemäßen Behandlung des Kreuzblütlers. Dann schmeckte das Gemüse ein bisschen bitter, war ein bisschen zu hart, und hinterher umwehten üble Winde meinen Rücken. Ich glaube inzwischen, dass man einen guten Koch erkennen kann an der Art und Weise, wie er Rosenkohl serviert. Kommt der Rosenkohl schmackhaft auf den Tisch, kann man dem Koch auch in allen anderen Angelegenheiten vertrauen. Ich würde so einem Künstler auch Geld leihen oder ihm etwas von meinen Fantasien abgeben, die ich in den sicherlich bald berühmten Rosenkohl-Akten abgelegt habe.
Man sieht, es öffnen sich Welten, wenn man auf der Straße mithört. Ich verstehe mich dabei nicht als eine Art Stasi. Mich interessiert der Kontext in der Regel weniger. Ich brauche nur ein bisschen was Flatterhaftes, das meine Fantasie beflügelt. So wie es mir dieses junge Mädchen kürzlich lieferte, die auf der Friedrichstraße meines Weges kam und ihren Körper beim Sprechen ein bisschen künstlich verbog. So, als müsse sie den Worten damit den Weg zum Ausgang ebnen. Sie sagte: „Ey sorry, das habe ich schon längst bei Instagram gepostet.“
Ich war auf der Stelle fasziniert. Ich wusste nicht, was sie gepostet hatte, aber ich fand die Art, wie sie „ey sorry“ sagte, atemberaubend. Sie sagte das nicht einfach so. Sie dehnte das „sorry“ bis zum Gehtnichtmehr und hielt sich ungefähr eine halbe Stunde auf dem „o“ auf. „Ey soooooooorry.“
Das klang so, wie ich es sonst nur aus dem Fernsehen kenne, wo sich randbegabte Comedians in der Parodie von irregeleiteten Jugendlichen ausprobieren und damit viele Lacher ihres sich gebildet wähnenden Publikums einheimsen. Ich dachte, dass diese Überkandidelte eine eigene Kunstform ist. Aber ganz offensichtlich gibt es das wirklich. Hier bei uns auf den Straßen. Oder habe ich versehentliche eine junge Komikerin getroffen, die auf der Straße gerade ihr neues Programm ausprobierte? Ich weiß es nicht, und ich werde es auch nie erfahren. Ey soooooooorry.
Inzwischen beschäftigt mich die Frage, ob Schmetterlinge wohl Rosenkohl mögen. Also nicht das fertige Gemüse, aber möglicherweise die Rosenkohlblüten. Blüht Rosenkohl überhaupt? Meine Güte, was ich alles nicht weiß!
Ich weiß zum Beispiel nicht, wie sich der Rosenkohl verhält zur Art und Weise wie ich in der Öffentlichkeit meine Ohren spitze, dass ich also in Volkes Mund Blumenkohlohren habe? Vertragen sich Blumen- und Rosenkohl eigentlich? Oder gibt es da eine Art Erbfeindschaft? Singt der Blumenkohl unter der Dusche heimlich den Bon-Jovi-Kracher „I wanna lay down in a Bed of Rosenkohl“?
Und was mögen die Menschen gedacht haben, die mich nach den jeweiligen Begegnungen beobachtet haben? Ich habe ja die Angewohnheit, bemerkenswerte Sätze sofort in mein Schlauphon zu diktieren. Was werden die Menschen gedacht haben, die auf der Burghofstraße einen Segelohrträger passierten und hörten wie er seinem Mikrofon mitteilte, dass es genetisch bedingt ist, ob du Rosenkohl magst oder nicht?
Bei all den Fragen half mir dann ein junger Mann, der mir auf der Erftstraße begegnete. Er telefonierte und ging langsam, weshalb ich alerter Oldie-Hipster mit Wind in meinen Segelohren zum Überholen ansetzte. Als ich auf seiner Höhe war, hörte ich ihn eine große Weisheit absondern. „Es ist immer doof wenn man nicht weiß wie es weitergeht“, sagte er. Dem ist nichts hinzuzufügen.