Stadtgeschichte Überleben mit Rübensuppe, Rübenbutter und Rübenmarmelade
Düsseldorf · Gastbeitrag Wie überstand die Düsseldorfer Bevölkerung den berüchtigten Rübenwinter von 1916/17? Fragen, die sich Margrit Schulte Beerbühl, Dozentin am Historischen Seminar der Heinrich-Heine-Universität, mit ihren Studierenden stellte.
„Bislang gibt es fast keine jüngere lokale Forschung zu dem Thema“, erzählt die Historikerin. Anhand von Dokumenten aus dem Düsseldorfer Stadtarchiv, weitgehend zeitgenössischen Veröffentlichungen und Tagebüchern arbeiteten die Studierenden die Situation der Zeit auf. War die deutsche Regierung zu Kriegsbeginn noch überzeugt, Deutschland könne nicht ausgehungert werden, so änderte sich die Lage mit der Blockade der Engländer kurz nach Beginn des Krieges und durch die fehlgeleitete Agrarpolitik massiv. Eine der ersten Maßnahmen war die Einführung des sogenannten K-Brotes (Kriegs- oder Kartoffelbrot), denn dem Brot wurde Kartoffelmehl hinzugefügt. Schon bald wurde die Kartoffel neben dem Brot zum wichtigsten Nahrungsmittel, wegen der enormen Preissteigerung für Hülsenfrüchte und Nährmittel wie Reis oder Graupen. Nach der Verhängung der Seeblockade durch die Briten wurde die Versorgung nicht nur mit Grundnahrungsmitteln, sondern gerade auch mit Kaffee und Schokolade immer schwieriger. Aber eben darauf wollte die Bevölkerung jedoch nur ungern verzichten. Kaffeebohnen wurden schon bald durch Zichorien ersetzt und als auch hier ein Mangel auftrat, griff man bei der Kaffeezubereitung zu Eicheln und anderen Ersatzstoffen. Schokolade galt damals als ein wohltuendes, stärkendes und nahrhaftes Lebensmittel, das vor allem Kranken, altersschwachen Menschen und Kindern zur Stärkung empfohlen wurde. Wegen seiner Haltbarkeit und der geringen Verpackungsgröße sollte es deshalb in keinem Soldatenrucksack fehlen. „Kein Tornister ohne Schokolade“ hieß die Parole zu Beginn des Krieges. Neben Zigaretten war deshalb auch Schokolade in den „Liebesgaben“, die die Familien an ihre Soldaten an der Front sandten, unerlässlich. In Düsseldorf richteten Frauen eine „Zentralstelle für freiwillige Liebestätigkeit“ zur Versorgung von Soldaten, Kranken und Bedürftigen mit Süßigkeiten und anderen Lebensmitteln ein. 1916 war Schokolade vom freien Markt verschwunden, das wenige, was noch hereinkam, wurde dem Militär vorbehalten. Ansonsten wurden Eicheln als Ersatz für Kakaobohnen verwendet.
„Vor 1914 gab es in Deutschland Zucker im Überfluss“, erzählt die Historikerin. „Wegen des hohen technischen Standards und der guten Düngung produzierte man aus Zuckerrüben weit mehr Zucker als hierzulande benötigt wurde. Der wurde zum Teil auch nach England exportiert, was mit Kriegsbeginn natürlich beendet wurde.“ Doch bald ging auch in Deutschland die gute Ernte der vor allem im Aachener Umland und in der Magdeburger Bucht angebauten Zuckerrüben zurück. Zum einen war das notwendige Personal für den sehr pflegeintensiven Zuckerrübenanbau nicht mehr vorhanden, zum anderen fehlte der bis dahin aus Südamerika importierte Dünger Guano, was die Erträge bald schrumpfen ließ. Zudem gab es den Befehl, die Rübenfelder zum Kartoffel- und Getreideanbau zu nutzen, weil das Reichskriegsernährungsamt so die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen wollte.
Ein weiteres Problem war der durch die Regierung verordnete „Schweinemord“ Ende 1914. „Das Schwein wurde als Nahrungskonkurrent angesehen“, berichtet die Historikerin. Der eigentliche Restefresser wurde plötzlich zum Rivalen des Menschen. Hintergrund waren die enorm gestiegenen Futtermittelpreise, die es für die Bauern lohnender machte, Getreide und vor allem Kartoffeln an die Schweine zu verfüttern. Auf staatlichen Befehl wurden knapp neun Millionen Schweine geschlachtet und der Schweinebestand so halbiert. Auch die Schlachtung von einer Millionen Milchkühen war vorgesehen „und daneben wurde auch die Milchversorgung ein großes Problem“, so Schulte Beerbühl. „Da auch die Tiere hungerten, war die Milch schlecht und durch den Transport oft verunreinigt.“
Die immer schlechter werdende Lage führte dazu, dass die Versorgung der Bevölkerung ab 1916 durch den Aufbau des Reichskriegsernährungsamts zentral organisiert wurde. Konnten bis dahin die lokalen Behörden die Versorgung ihrer Bevölkerung mit regional auch gewünschten Lebensmitteln organisieren („Im Rheinland zum Beispiel isst man mehr und lieber Spargel als in vielen anderen Gegenden Deutschlands“), so wurde das nun alles aus Berlin gesteuert. Das funktionierte – wie bei Zentralisierungen nicht ganz ungewöhnlich – nicht besonders gut. Die Regierung hatte schon kurz nach Beginn des Krieges Höchstpreise für Lebensmittel verordnet – Waren verschwanden aus den Regalen und wurden zu überhöhten Preise auf dem Schwarzmarkt angeboten.
Die drückende Nahrungsmittelnot zwang schon Anfang 1915 viele Stadtverwaltungen, in eigener Regie Ackerbau und Viehzucht zu treiben. Sie ermutigten die Bevölkerung zur Selbsthilfe. Im Februar 1915 rief der Düsseldorfer Oberbürgermeister die Bevölkerung auf, alle freien Baugrundstücke und Freiflächen in Kulturland zum Anbau von Kartoffeln und Gemüse umzuwandeln. Auf jeder möglichen Freifläche wurden Gemüsebeete angelegt. Der Städter wurde zum „Landwirt“, das betraf sowohl die Versorgung mit Gemüse als auch die private Aufzucht von Schweinen in städtischen Wohnungen. Als „Fensterbrettplantagen“ wurden diese Selbsthilfeaktivitäten der Städte karikiert. Als „Selbstversorger“ unterlagen die Stadtbewohner nicht ganz den strengen Vorgaben der Zwangswirtschaft. Da es kaum noch Fleisch gab, gingen Städter auch dazu über Schweine bei Landwirten zu kaufen, der sie zunächst in „Pension“ hielt. Diese „Pensionsschweine“ – sie wurden auch „Balkon-, Keller- oder Salonschweine“ genannt – holte man in den letzten Wochen vor der Schlachtung ins eigene Haus oder die Wohnung.
Die Versorgungslage verschlechterte sich ab Juli 1916 und erreichte ihren Tiefpunkt 1916/17. Die Kartoffelfäule vernichtete einen großen Teil der Ernte und führte zum berüchtigten Kohlrüben-Winter 1916/17. Zeitweise erhielten die Städte keine Kartoffelzuteilungen. Adele Statz berichtete im ersten Quartal 1917 wiederholt, dass über Wochen keine Kartoffeln zu haben waren und die Kohlrüben zu faulen anfingen. „Da es damals schon fast keine Fette und nicht mehr ausreichend Zucker gab, wurde versucht, die kalorische Versorgung der Bevölkerung durch Rübenmarmelade, Rübensuppe, Rübenbutter, Rübenschnitzel und ähnliches sicherzustellen. Aber das waren Futterrüben, keine Zuckerrüben – es soll furchtbar geschmeckt haben“, so Schulte Beerbühl.
„Laut den Angaben, die wir im Stadtarchiv gefunden haben, sank die zugeteilte Ration in Düsseldorf Anfang 1917 von 1500 kcal auf 1100 Kalorien pro Tag“, erzählt die Historikerin. Es mangelte nicht nur an Lebensmitteln, sondern auch an vielen anderen Konsumgütern. Kohlen waren gleichfalls Mangelware, so dass viele Menschen froren. Selbst die Kleidung unterlag seit 1917 der Zuteilung durch Bezugsscheine. Es kam im Juni 1917 in Düsseldorf zu Streiks und Hungerkrawallen. Zeitgenossen, wie Albert Oehler, der ehemalige Bürgermeister von Düsseldorf berichten von erheblichen Ausschreitungen und Plünderungen von Lebensmittelgeschäften unter anderem an der Schadowstraße.
Mangelerscheinungen und gesundheitliche Schädigungen traten schon 1916 auf, Tuberkulose- und Infektionskrankheiten nahmen zu. Verlässliche Zahlen über die Opfer dieser Hungersnot gibt es nur bedingt. Schätzungen gehen davon aus, dass allein im Winter 1917 an die 260 000 Zivilisten an Hunger und Grippe starben. Andere Schätzungen gehen dahin, dass in den vier Kriegsjahren an die 700 000 Zivilisten an Hunger, Unterernährung und Infektionskrankheiten gestorben sind. Die Kindersterblichkeit soll um 50 Prozent zugenommen haben und die Frauensterblichkeit bis 1918 über 7,3 Prozent pro tausend Sterbefälle gegenüber dem letzten Vorkriegsjahr (1913) gestiegen sein. Im Vergleich dazu stieg sie in England nur um 2,4 Prozent im gleichen Zeitraum.
Auch mit Kriegsende besserte sich die Situation der Bevölkerung nur langsam. „Die Blockade wurde von den Briten erst 1919 aufgegeben und kurz drauf erfolgte dann die Besetzung des Rheinlands durch die Franzosen, was die Lage auf dem Lebensmittelmarkt wieder erschwerte“, so Schulte Beerbühl. Erst nach der Währungsreform und dem Abzug der Franzosen besserte sich die Situation deutlich.