Im Central hat „1984“ ein Happy End
Die sehr freie Interpretation von George Orwell führt bei der Premiere im Central zu einem Rock-Musical mit Schauer-Elementen, garniert mit ein wenig Science-Fiction. Das Publikum feiert das Stück.
Die Liebe besiegt und überwindet alles, selbst einen totalitären Überwachungs- und Folterstaat. So schleppt am Ende von George Orwells „1984“ Winston Smith seine geliebte Julia auf dem Rücken davon - während die anderen Bürger, die eben noch Gefahr liefen, vom System ‚ausgemustert’ zu werden, dem Big Brother folgen. Freiwillig und mit einem Song auf den Lippen, steigt das Volk von Ozeanien in eine Zylinder-Kapsel ein. Wohin die Reise geht? Ob sie lebendig begraben werden? Das wissen die Götter. Aber die gibt’s in „1984“ eh nicht mehr.
Anders als im Original von George Orwell lässt Armin Petras seine Bühnenfassung des horrorvisionären Romans in eine romantische Utopie münden. Zumal viele gruselige Bilder von der Herrschaft eines gnadenlosen Überwachungsstaats in eine hinreißende Klangkulisse wattiert werden. Knall, Schuss. Päng. Rätselhafte, groteske Figuren. Ein Schuss Fantasy und Science-Fiction, eine Prise Kritik am Zeitgeist, vor allem aber viel Musik — das auftrumpfende Multitalent Christian Friedel und Armin Petras bieten ein ‚1984-Musical’ von über drei Stunden, das bei der Uraufführung im Central vom geduldigen Publikum gefeiert wurde.
Frei nach Orwell - dieser Untertitel wäre ehrlicher; denn der renommierte Regisseur und Autor Petras geht mit Orwells düsterem Text recht freizügig um. Die Ozeanier reden von „Likes“, achten genau auf ihre „Work-Life-Balance“. Man denkt: Es könnte um unsere Zukunft gehen, Klimawandel inklusive.
Es ist heiß (in London), es gibt keine Winter mehr. Die Ozeanier können sich kaum erinnern an Weihnachten und Schnee. Und sind von ausgestopften Wildschweinen, Hirschen oder Dachsen umgeben. Winston und Julia lernen sich kennen, haben anfangs nur eine reine Bett-Beziehung. Bereits damit stehen sie Widerspruch zum Überwachungs-Apparat, der für die Jugend eine Grundration Pornos und Fitness vorgesehen hat.
Von beunruhigender Orwell-Dunkelheit ist wenig zu spüren, und wenn, wird man herausgerissen durch knallende, brummende Sounds und Musiknummern. Zwölf Songs - mal fetziger Rock, dann lieblich süßlicher Pop - werden gespielt von der Live-Band „Woods of Birnam“, meist geschmettert oder verführerisch gewinselt von Frontmann Christian Friedel.
Im Kostüm eines Zirkusdirektors oder eines nickenden Wiedehopfs fungiert Friedel als erzählender Big Brother, zwischendurch rollt er als böser alter Mr. Charrington auf einem Rollstuhl durch Ozeanien. Als musikalischer Leiter gibt er am Mischpult die Einsätze, singt virtuos mit seiner hohen, einige Oktaven umfassenden Stimme und schießt plötzlich als dunkler Geist auf die Bühne. Einziges Problem: Die englischen Songs sind kaum zu verstehen. So weiß man nicht, ob und wie sie zu den Szenen passen. Zum Verständnis wären Untertitel hilfreich.
Wesentlich stärker ist der Teil, in dem Bomben einschlagen und in Ozeanien eine trostlose Gesellschaft an Krücken und mit Luftballons zurückbleibt. Nur Winston und Julia (starke Mimen: Robert Kuchenbuch und Lea Ruckpaul) flüchten sich kurzfristig mit einem akrobatischen Liebes-Pas-de-deux in eine glitzernde Scheinwelt.
Doch O’Brien, ihr anfänglicher Verbündeter, lässt seine Clowns-Maske fallen, hämmert auf sie ein mit dem harten Rocksong „Es geht darum, wie man richtig stirbt. Steh auf und kämpfe,… steh auf und hasse“. Sekundiert vom Big Brother „You are in the cage“ (Du bist im Käfig). Kurz darauf mutiert O’Brien (hintergründig und gewalttätig: Wolfgang Michalek) zum blutrünstigen Folterknecht und Henker.
Ein Tableau, in dem einige Liter Theaterblut fließen und das sich mit in langatmigen Erklärungen über das Regime ergeht, in dem es „keine Lyrik mehr, keine Lügen und kein Zittern vor dem falschen Mond“ mehr gibt.
Erstaunlich, dass Armin Petras den tief pessimistischen Orwell-Schluss (in dem Winston nach der Folter nur noch den Big Brother liebt) verändert und stattdessen ein versöhnliches Finale der großen Liebe anstimmt.
Fast wie in einem Hollywood-Streifen der späten 1940er Jahre — der Nachkriegszeit, in dem George Orwell seinen Roman geschrieben hat. Fazit: Ein Science-Fiction-Stück Rock-Musical mit Schauer-Elementen - frei nach George Orwell.