Interview: Jeder kann etwas gegen Gewalt an Kindern tun
Kinderpsychiater Eberhard Motzkau über fehlende Rituale und Zivilcourage.
Düsseldorf. Eberhard Motzkau hat 18 Jahre lang die Kinderschutzambulanz am EVK geleitet, jetzt ist er in Ruhestand gegangen. Zu Beginn seiner Arbeit war das Bewusstsein für das Thema Gewalt gegen Kinder noch unterentwickelt. Für die WZ blickt er zurück und spricht über die heutige Situation von Kindern.
Herr Motzkau, was machen Sie jetzt den ganzen Tag?
Eberhard Motzkau: Ich probiere erstmal, ob es geht, nichts zu machen. Es gibt Interessenten, die mich für ehrenamtliche Arbeit gewinnen wollen. Aber ich muss aufpassen, dass ich nicht das gleiche wie vorher tue — ohne Bezahlung. Ansonsten will ich reisen.
Fällt es schwer, nach der langen Zeit ihre Arbeit ruhen zu lassen?
Motzkau: Ich hätte gern den Start der Müttergruppe in der Babysprechstunde erlebt. Es geht darum, junge Müttern mit sehr jungen Kindern wöchentlich zusammenzubringen in schöner Atmosphäre, zu versorgen und mit Rat und Hilfe zu unterstützen, so wie sie es annehmen können, und mit anderen Müttern in Kontakt zu bringen.
Wie verbreitet ist denn das Problem von Gewalt gegen Kinder?
Motzkau: Es gibt keine zuverlässigen Daten. Nach Schätzungen sind 10 bis 15 Prozent der Kinder Opfer körperlicher Gewalt, angefangen bei der Ohrfeige. Noch größer ist wohl die Zahl derer, die Vernachlässigung und seelische Gewalt erleben. Dazu kommt sexueller Missbrauch.
Nimmt die Öffentlichkeit das Problem wahr? Im Blickpunkt stehen meist krasse Einzelfälle.
Motzkau: Man bekommt mehr mit, als in der Zeitung steht: der Lärm in der Nachbarwohnung, schreiende Kinder im Supermarkt, die Ohrfeige auf dem Spielplatz. Man sollte dazu nicht schweigen. Auch mal bei den Nachbarn klingeln und fragen, ob alles in Ordnung ist. Solche Familien sind oft sozial isoliert.
Als Sie 1993 bei der KSA anfingen, gab es noch kaum ein Bewusstsein für das Thema?
Motzkau: Das Problem des Kinderschutzes war damals schon öffentlich, aber noch umstritten. Auch bei den Kinderärzten wurde das Thema lange ausgeblendet. Zum Teil aus Unwissenheit, zum Teil aus der Angst, Eltern auf das unangenehme Thema anzusprechen. Noch 1993 gab es Zahlen der Polizei, wonach 80 Prozent der nächtlichen Einsätze wegen häuslicher Gewalt waren, meist gegen Frauen. Was das für die Kinder bedeutet, darüber hat sich niemand Gedanken gemacht.
Es geht also nicht nur um geschlagene Kinder?
Motzkau: Nein, Gewalt hat viele Formen. In unserer diagnostischen Arbeit haben wir angefangen, auch seelische Gewalt zu berücksichtigen: Erniedrigung, Beleidigung, Entwertung. Das sind Sachen, die in vielen Familien zum Teil unbewusst passieren. Eltern vergessen dabei oft ihren Stellenwert für die Kinder. Die können das nicht verarbeiten.
Wie erfahren Sie von den Fällen?
Motzkau: Rund 40 Prozent der Familien kommen aus eigenem Antrieb. Der Rest sind Hinweise von Ärzten oder dem Jugendamt. Das unterstützt uns übrigens sehr in unserer Arbeit, auch finanziell.
Können Sie helfen?
Motzkau: Am Beginn steht die Diagnose. Im Gespräch finden wir heraus, was die Kinder erlebt haben und was ihnen fehlt. Danach beginnt die Therapie. Wenn Kinder Trost und Versorgung kennen gelernt haben, ist die Chance gut, dass wir ihnen helfen können. Je später sie kommen und je intensiver sie seelisch geschädigt sind, umso schwieriger wird es.
Nehmen die Probleme zu oder ab?
Motzkau: Heute sind etwa 20 Prozent der Kinder seelisch erkrankt. In den 70ern lag die Zahl noch spürbar niedriger. Ich denke aber, dass Gewalt heute als Erziehungsmittel nicht mehr anerkannt ist wie noch vor einigen Jahrzehnten. Das macht mich optimistisch. Andererseits haben wir heute andere Probleme, vielen Familien fehlen Strukturen.
Was heißt das?
Motzkau: Oft fehlen gemeinsames Spiel, gemeinsame Rituale wie Mahlzeiten. Jeder sitzt einzeln vor dem Bildschirm, nimmt sich etwas zu essen, wenn er Lust hat. Manche Eltern halten sich damit für liberal. Aber da beginnt schon die Vernachlässigung. Auch Trennungen sind ein großes Problem für Kinder. Oft werden sie von den Eltern instrumentalisiert, um ihre Interesse gegenüber dem früheren Partner durchzusetzen. Erschreckend viele Kinder kennen die juristischen Details der Scheidung ihrer Eltern.
Was sind das für Familien, in denen Gewalt entsteht?
Motzkau: Oft sind es sehr junge Eltern, die überfordert sind, teils allein erziehend. Viele haben wenig Bildung, kommen selber aus zerrütteten Familien oder sind im Heim aufgewachsen. Es gibt aber durchaus auch Fälle in der Ober- und Mittelschicht.
Zurzeit erleben wir, wie der Staat in den Kitas immer mehr Erziehungsarbeit übernimmt.
Motzkau: Es wird viel über Plätze gesprochen und wenig über Qualität. Gerade im zweiten Lebensjahr sind feste Bindungen sehr wichtig für die Entwicklung eines Kindes. Ich fürchte, dass beim Kita-Ausbau die nächste Form der Vernachlässigung — nämlich staatlicherseits — geplant wird.