Interview Die Trendsetterin des autobiografischen Schreibens

Düsseldorf · Interview Annie Ernaux zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen in Frankreich. Am Donnerstag präsentiert sie ihr neues Buch im Literaturhaus. Wir sprachen mit Romanistik-Professorin Ursula Hennigfeld – sie wird den Abend moderieren.

Ursula Hennigfeld wird das Gespräch mit der Autorin führen.

Foto: Privat

Annie Ernaux zählt zu prägendsten Schriftstellerinnen in Frankreich. Seit einigen Jahren wird sie auch in Deutschland entdeckt. Letzte Woche ist ihr Buch „La Place“ („Der Platz“) auf Deutsch erschienen. Am Donnerstag liest sie daraus im Literaturhaus. Die Romanistik-Professorin Ursula Hennigfeld von der Heine-Uni wird moderieren. Wir sprachen mit ihr darüber, warum „Der Platz“ für Ernaux und die französische Literatur einen Wendepunkt auslöste.

Frau Hennigfeld, warum ist Annie Ernaux so populär?

Ursula Hennigfeld: Es ist die sehr besondere Verbindung aus persönlicher Lebensgeschichte und Gesellschaftsporträt, die sie selbst „auto-socio-biographie“ nennt. Sie schildert sehr eindrucksvoll den Preis, den man nach wie vor für sozialen Aufstieg zahlt.

„La Place“ ist ja bereits 1983 erschienen. Ernaux schildert darin die Lebensgeschichte ihres Vaters, der aus einem bäuerlichen Milieu stammt. Das Buch hat seinerzeit nicht nur den Prix Renaudot erhalten, sondern kam auch bei den Lesern enorm gut an. Woran lag das?

Hennigfeld: Sie schreibt in „La place“ zwar distanziert, aber zugleich auch sehr liebevoll über den Verlust ihres Vaters. Dieses Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts, aber auch das ambivalente Verhältnis zu den Eltern wird sehr bewegend geschildert. Der auf den ersten Blick schlichte Stil (auf Französisch „écriture plate“) macht ihre Bücher großen Leserkreisen zugänglich.

Ernaux sagte oft, dass „Der Platz“ einen Wendepunkt in ihrem Schreiben herbeigeführt habe. Inwiefern?

Hennigfeld: Sie klagt ihre Eltern nicht mehr an, wie in den früheren Romanen. Sondern sie thematisiert ihre eigene innere Zerrissenheit, das Gefühl, weder im Arbeitermilieu noch im Bürgertum am rechten Platz zu sein. Scham (honte) und Verrat (trahison) sind zwei Wörter, die sie in diesem Zusammenhang oft verwendet. Stilistisch ist „La place“ kürzer und klarer strukturiert als frühere Texte. Sie verwendet nun auch Lücken und Leerzeilen, die den Lücken in der Erinnerung entsprechen.

Ebenso gilt „Der Platz“ als Einschnitt in der französischen Literatur. Sehen Sie das auch so?

Hennigfeld: Ja, das kann man so sagen. Auch wenn es natürlich starke Einflüsse auf ihr Schreiben gibt, man könnte den Soziologen Pierre Bourdieu oder auch Schriftsteller wie Albert Camus als Vorbilder nennen. Außerdem bricht sie mit der Schilderung weiblicher Sexualität so manches Tabu der Zeit.

Ernaux beschreibt die Geschichte ihres Vaters, den gesellschaftlichen Aufstieg ihrer Familie, aber auch ihren Bruch mit ihrer Herkunft ziemlich kühl, emotionslos. Wie hat dieser sachliche Stil auf Sie gewirkt?

Hennigfeld: Camus‘ Roman „Der Fremde“ und das Konzept der impassibilité (Leidenschaftslosigkeit, Ungerührtheit) ist ganz offensichtlich sehr prägend für Annie Ernaux gewesen. Aber ich finde, dass sie trotzdem sehr liebevoll über ihre Eltern schreibt. Sie rechnet nicht mit ihnen ab oder macht sich über sie lustig.

Ernaux ist auch Teil eines Trends in der Gegenwartsliteratur: dem autobiografischen Schreiben. Worin liegt er begründet?

Hennigfeld: Das Thema des sozialen Aufstiegs und der Durchlässigkeit der sozialen Klassen ist nach wie vor aktuell. Die Diskriminierung von Frauen oder die soziale Benachteiligung von Arbeiterkindern gehört leider immer noch nicht der Vergangenheit an. Ich würde nicht sagen, dass Ernaux Teil eines Trends ist, vielmehr ist sie vor vielen Jahren Trendsetterin gewesen. Autoren wie Didier Eribon oder Édouard Louis nennen sie als Vorbild.

Info: Annie Ernaux liest aus „Der Platz“, danach Gespräch mit Romanistik-Professorin Ursula Hennigfeld von der Heine-Uni; Lesung deutscher Text: Rudolf Müller (Müller & Böhm Literaturhandlung); Ort: Heine Haus Literaturhaus, Bolkerstr. 53, Eintritt: 10 Euro (erm. 8 Euro).