Gotteslästerliche Tanz-Hymne auf das Leben B.32: Schläpfers gotteslästerliche Tanz-Hymne auf das Leben
Das neue Werke des international anerkannten Chefchoreographen der Düsseldorfer Oper "Petite Messe Solennelle" ist spektakuläre Tanzkunst zu Rossinis gleichnamiger Oper.
Düsseldorf. Eine Phalanx von Fernsehkameras im hinteren Teil des Zuschauerraums irritiert: Das ZDF zeichnet die Uraufführung von Martin Schläpfers neuem Werk „Petite Messe Solennelle“ in der Düsseldorfer Oper in Kooperation mit 3sat auf. Ein starker Beweis dafür, dass der Chefchoreograf mit seinem Ballett am Rhein längst die deutsche Spitze erreicht hat. Einen Schläpfer kann man offenbar unbesehen senden. Und in der Tat präsentiert sich b.32 als aufregendes Gesamtkunstwerk zu Gioacchino Rossinis gleichnamiger Messe für vier Gesangssolisten, gemischten Chor, zwei Klaviere und Harmonium unter der Gesamtleitung von Generalmusikdirektor Axel Kober.
Von Rossini darf man keine tiefernste Sakralmusik erwarten. Der italienische Komponist berühmter komischer Opern („Der Barbier von Sevilla“) hatte reichlich Humor. „Petite Messe Solennelle“— „Kleine, feierliche Messe“ — nannte er seine Komposition von immerhin 85 Minuten Dauer. Und das vollendete Werk widmete er niemand Geringerem als Gott: „Lieber Gott — voilá, nun ist diese arme kleine Messe beendet. Ist es wirklich heilige Musik („musique sacrée“), die ich gemacht habe oder ist es vermaledeite Musik („sacrée musique“)? . . . “
Beim Hineinhorchen in diese Musik hat Martin Schläpfer denn auch neben religiösen Motiven Heiteres, Anzügliches, Derbes, aber auch Nachdenkliches entdeckt. Als Gegenentwurf zu der intim besetzten Messe, die Rossini zur Einweihung der Privatkapelle eines Pariser Adeligen komponierte, skizziert der Schweizer die Alltagswelt der einfachen Leute. Und komponiert seinerseits eine gotteslästerliche Tanz-Hymne auf das Leben.
Dazu baute ihm Florian Etti eine architektonische Bühne mit asymmetrischen Rundbögen, die an ein Kellergewölbe, einen Kreuzgang oder einen italienischen Dorfplatz erinnert. Sie liegt im Halbdunkel und das Licht, das das lebhafte Völkchen in Kittelkleidern und Hosenträgern hervorhebt, gibt den Szenen etwas Barockes, Malerisches — man denkt an Caravaggio.
Hier liegen Seelennot und Lebensfreude nah beieinander. Der Choreograf deutet einzelne Figuren an. Da ist ein Pfarrer, hin- und hergerissen zwischen Askese und weltlicher Verführung. Eine Ur-Mutter, die immer tröstend zur Stelle ist oder den Wortlaut der Messe tanzend kommentiert. Eine Frau, die Arme voller Rosenkränze, hält verzweifelt Zwiesprache mit Gott. Vor allem aber gibt es das Volk, das man in grandiosen Ensembleszenen sieht. Mal schleicht es übertrieben devot mit gebeugtem Rücken, mal versprüht es virtuos Lebenslust.
Schläpfer versetzt uns in einen Bilderrausch, der schwindelig macht: Zum einen, weil die feine Klangwirkung von Sängern und Chor zusammen mit den extrem dichten Szenen auf der Bühne den Kopf bisweilen überfüllen: Zu viele Eindrücke konkurrieren um die Aufmerksamkeit, auch droht die Choreografie mitunter zu zerfasern. Zum anderen aber, weil dieser Tanzschöpfer von der Sprache des klassischen Balletts nur noch die Buchstaben gelten lässt und seine eigenen, furiosen Idiome erfindet. Völlig losgelöst, eigenwillig und radikal formuliert er seine existentiellen Fragen. Und variiert selbstbewusst die Stile.
Sah man je solch eine vertanzte Messe? Zum „Cum Sancto Spiritu, in Gloria Dei“ Patris“ stampfen acht Tänzer mit derbem Schuhwerk auf den Boden, als wollten sie den Heiligen Geist in die Flucht schlagen. Marcos Menha interpretiert mit gebrochener Klassik-Eleganz das Bass-Solo „Quoniam tu solus Sanctus“. Tänzer fügen sich revueartig in einer Reihe wie zu einem Fresko, zeigen religiöse Armgesten, schaukeln mit den Hüften.
Mitunter denkt man auch an Commedia dell' arte. Der Pfarrer bibbert und kratzt sich hektisch am Bein, wirft sich auf den Boden wie eine Karikatur. In einer Pantomime trinken Mönche (?) auf Stühlen ein Tässchen Espresso, rauchen und stopfen sich schließlich eine phallische Wurst in den Mund. Überhaupt hat Schläpfer es mit bitterböser Requisiten-Symbolik. Mit Schinken-Keulen schlagen sich Tänzer wie mit einer Geißel auf den Rücken. Und Carabinieri tragen Fahnen mit dem Konterfei des Papstes.
Eine Messe ohne Pathos? Ganz am Ende beim „Agnus Dei“, wenn der Chor bittet „Dona nobis pacem“ — „Gib uns Frieden“ — und Marlúcia do Amaral sich wie im Veitstanz gebärdet und mit übertrieben schmerzverzerrtem Gesicht gen Himmel wendet, trägt Schläpfer arg dick auf. Findet dann aber doch noch mit einer Szene, die das Ensemble in seinem Menschsein auf sich geworfen zeigt, ein bewegendes Schlussbild. Großer Jubel.