Düsseldorfs größte Denkwürdigkeiten
Der Journalist und Verlagsleiter Frank Lorentz beschreibt die wahre Dimension der Kö-Geschichte.
Düsseldorf. Beim Aufräumen fielen mir zwei Merian-Hefte über Düsseldorf in die Hände, das eine von 1996, das andere von 1987. In dem 96er-Heft versucht der damalige Zeitgeistjournalist und heutige berühmte Zukunftsforscher Matthias Horx, der es sich zur Gewohnheit gemacht hat, die Oberflächen der Dinge mit ihrem Wesen zu verwechseln, die Eigenart der Kö zu definieren.
Er findet heraus, sie habe keine, und dies sei ihr Problem. Nebenbei streut er in sein Kö-Porträt Namen von Geschäften ein, die es schon lange nicht mehr gibt - Viney, Winckelmann, Patriarca.
In dem 87er-Heft geht es um die Mode auf der Kö. Hanns Friedrich, der damals "seit dreißig Jahren fünfundzwanzig oder seit fünfundzwanzig Jahren dreißig" ist, veranstaltet eine Modenschau und betritt den Laufsteg in Persianer-Hot-Pants, während Toni Lirsch, besser bekannt als Toni Gard, Mitte vierzig ist und in der Blüte seiner Zeit.
Ich war irritiert von der Menge an Vergangenheit, die aus den Heften emporstieg und die den Eindruck erweckte, dass die Kö erstens mehr Vergangenheit habe, als sie jemals Zukunft haben könne.
Und dass sie zweitens- derart ausgeprägt war die Neigung der Autoren, die Kö zu musealisieren - selbst zum Zeitpunkt ihrer Gegenwart immer schon Geschichte sei.
Um Klarheit zu haben über die wahren Dimensionen der Kö-Geschichte, verabredete ich mich mit Thomas Bernhardt, dem Gründer der Düsseldorfer "Geschichtswerkstatt". Er hält Vorträge zur Stadtgeschichte, schreibt Bücher und bietet Führungen an, auch über die Kö.
Wir trafen uns an der "kleinen Kö", und zwar dort, wo ehemals MediMax einen Laden hatte. Bernhardt hielt einen dicken, von einer Fahrradhosenklammer umfassten Stapel Karteikarten in der Hand, und als er eine halbe Stunde erzählt hatte, war die erste Karte noch nicht abgearbeitet, glaube ich. Ich fühlte mich wie ein Schnapsglas, in das jemand ein Fass Bier gießen will.
Bernhardt beamte sich und mich hundert Jahre zurück und ließ das Apollo-Variété wiederauferstehen, das dort untergebracht war, wo MediMax untergebracht war.
Er ließ Automobile Loopings über dinierende Herrschaften fliegen, derweil man sich in Séparés den Freuden der Liebe hingab und Fritz Genandt, Geschäftsführer des Apollo, in weißen Handschuhen über die Kö promenierte und Ausschau nach hübschen Damen hielt. "Er hatte unheimlich viele uneheliche Kinder", sagte Bernhardt.
Mit jedem Meter, den wir die Kö entlangspazierten, riss Bernhardt quasi mit links (in der rechten Hand hielt er die Karten) einen Bergwerksstollen auf und baute im nächsten Moment alle darin lagernden Schätze an Vergangenheit ab. Es war also alles noch viel schlimmer, als die Merian-Hefte befürchten ließen. Geschichte ohne Ende!
Wir standen an der Graf-Adolf-Straße, als er auf das Gebäude mit dem Auktionshaus im Parterre hinwies und erklärte, die Ecke sei vor hundert Jahren "Gummi-Ecke" genannt worden, weil dort ein Laden Kunststoffwaren, aber auch Präservative verkaufte. Kurz darauf standen wir gegenüber von Slupinski, dem Pelzgeschäft, und Bernhardt erklärte, dort sei das Hotel Zweibrücker Hof ansässig gewesen, das 1896, eine Sensation, zur Unterhaltung der Gäste "laufende Bilder" gezeigt habe.
An der Ecke zur Grünstraße sei um 1830 ein Tierpark zu finden gewesen, erklärte er, und weiter, dass man die Straße, die an der heutigen Bankenseite der Kö entlangführt, kurzzeitig nach dem Sozialisten Karl Liebknecht benannt habe (zu welch feiner Ironie die Geschichte doch fähig ist!). Und dass die Kö einst Stadtgrenze gewesen und das einzige, was die Jahrhunderte praktisch unverändert überlebt hat, der Kö-Graben sei.
Herr Bernhardt", fragte ich, "in der Rangliste der größten historischen Denkwürdigkeiten in Düsseldorf, welchen Platz belegt die Kö?" Er überlegte kurz und sagte dann: "Platz drei. Als Erstes kommt Graf Adolf, der Stadtgründer, an dem geht kein Weg vorbei. Zweiter: Jan Wellem. Danach die Kö."
Nur Platz drei für die erfolgsverwöhnte Kö. Super! Es ist also doch nicht alles noch viel schlimmer, als die Merian-Hefte befürchten ließen. Die Kö stellt nicht das Maximum an Geschichtlichkeit dar!
Daraus folgt unmittelbar, dass sie durchaus mehr Zukunft haben kann, als sie Vergangenheit hatte. Freilich nur unter der Voraussetzung, dass sie in Zukunft das Maximale aus sich herausholt oder zumindest das Zweitmaximale.