Lesen „Harry Potter ist echte Leseförderung“
Autorin Nicolette Bohn sagt, warum man Kinder für die Liebe zum Buch gewinnen muss. Sie meint, Lehrer müssten mehr dafür tun.
Düsseldorf. Lesen bildet. Doch die Wahl des richtigen Buches stellt insbesondere Eltern von Kindern und Jugendlichen vor eine Herausforderung. Die Düsseldorfer Autorin und promovierte Literaturwissenschaftlerin Nicolette Bohn ist Expertin auf dem Gebiet des Jugendbuchs, hat selber schon viele entsprechende Bücher verfasst und gibt im ASG-Bildungsforum Kurse über literarisches Schreiben für Jugendliche.
Auf die zunächst einfach erscheinende Frage, was ein gutes Kinder- oder Jugendbuch ausmacht, antwortet Nicolette Bohn mit einem kleinen Zustandsbericht. Sie sei etwas beunruhigt über die heutige Bildungssituation in Deutschland. Selbst in einer kulturell so breit aufgestellten Stadt wie Düsseldorf gebe es viele Brennpunkte.
Sie sei zu Gast an vielen Schulen gewesen Doch an mancher Hauptschule seien Lehrer die sich fürs Lesen der Schüler engagieren, Mangelware, sagt Bohn. „Was wollen Sie überhaupt?“, sei sie einmal von einem Düsseldorfer Lehrer gefragt worden, als sie für mehr pädagogisches Engagement für Literatur plädierte. Man habe doch schon damit zu kämpfen, dass die Jugendlichen überhaupt zur Schule kommen.
Gute Erfahrungen mache sie aber auch: „Ich bin mal von einem Erfurter Schulrektor angerufen worden, der mir freudig berichtete, dass sich ein Fünftklässler nach der Lektüre eines meiner Bücher von einer Neonazi-Gruppe gelöst habe.“ Das Buch hat den Titel „Im Bann der Seelenfänger“ und handelt von einem Jungen, der sich einer Jugendgang anschließt, weil er sie so cool findet, sich aber beginnt wieder zu distanzieren, als die Jugendlichen planen, die Pommesbude eines Türken in die Luft zu sprengen.
„Zehnjährige kann man noch erreichen“, sagt Bohn. Doch ab der Pubertät sei es nahezu unmöglich, auf literarischem Wege noch pädagogisch einzugreifen. „Schon Zwölfjährige lachen über solche pädagogisch wertvollen Bücher.“ Viel hänge von Elternhaus und Bildungsgrad der Heranwachsenden ab, erklärt die Autorin. An Gymnasien komme Jugendliteratur besser an. „Es ist schön zu sehen, wie leidenschaftlich die Gymnasiasten
über Themen wie Nationalismus oder Drogen diskutieren.“ Jedoch: „Diese Jugendlichen sind doch gar nicht gefährdet.“ Stattdessen läsen diejenigen, welche die Lektüre pädagogisch wertvoller Bücher nötig hätten, diese gerade nicht. Dagegen könnten weder Autoren noch Lehrer viel ausrichten. „Wir können die Welt nicht retten.“
Andererseits sei die Literatur für junge Leute noch nie so gut gewesen wie heute. Alte, streng erzieherische Geschichten wie die vom „Struwwelpeter“ (Foto: dpa) aus dem 19. Jahrhundert seien längst überholt von vielschichtigeren Storys. „Bei guten Büchern sind die Charaktere der Figuren dreidimensional“, erklärt Bohn. Weniger gelungene Geschichten erkenne man an der Schwarzweißmalerei mit absolut guten und absolut bösen Figuren.
Durch die Qualitätssteigerung sei manche Fantasy-Geschichte auch in der Literaturwissenschaft angekommen, etwa „Harry Potter“. Joanne K. Rowlings Bücher hätten literarischen Anspruch und seien geeignet für jedes Alter. „Das ist echte Lese-Förderung für Kinder.“ Doch habe bestimmte Jugendliteratur wiederum den Vorzug, dass sie präzise auf die unterschiedlichen Reifegrade von Kindern eingehe. Themen wie Sex, Gewalt und Drogen kämen in Internet oder Fernsehen ganz ungefiltert auf die Kinder zu. „Sie können das aber nicht altersgemäß verarbeiten.“ Jugendbücher gehörten zu den wenigen Bereichen, wo dies gelinge.